: Realismus, tiefgefroren
Familientag für Bedenkenträger: In Cottbus versucht man sich mit „Zonenrand-Ermutigung“ einmal im Jahr an einem kruden Stückemarathon über fünf Stunden ■ Von Nikolaus Merck
Wenn der Frühling kommt, ist Kraftlackel-Zeit in Cottbus. Dann stemmt der Staatstheater-Intendant sein ganzes Staatstheater in die Höhe. Hoch und höher, bis die Technik ächzt und die Schauspieler um Luft ringen. Es ist nun mal so Sitte in Christoph Schroths Reich. Da müssen alle mit.
„Zonenrand-Ermutigung“ heißt das Spektakel und hat in der Lausitz fünf Jahre Tradition. Reicht aber tiefer zurück in DDR- Zeiten. In Halle begonnen, berühmt gemacht in den frühen Siebzigern von Benno Besson an der Volksbühne, perfektioniert in Schwerin in den Achtzigern. Und Schroth immer mittenmang. Ein Haus voller Theater, vom Heizungskeller bis unter das Dach. 15 Stücke in fünf Stunden. Die Türen auf, die Tore weit, ein Abend alle Bühnenherrlichkeit für die Besucher. Und Cottbus' Bürger strömen. Das Ganze soll funktionieren wie ein riesiges Buffet. Mehr als drei Stücke für jeden läßt der Zeitplan nicht zu. Wer dann noch nicht genug hat, kann nachfassen kommen. Verbilligt am andern Tag.
Anfang und Ende des Abends, um sechs und um Viertel vor elf, sind obligatorisch. Schroth lädt in Volker Ludwigs zweigeteiltes „Café Mitte“. Der westberlinischste West-Berlin-Autor und der Meisterregisseur des sozialistischen Volkstheaters von ehedem, geht das gut? „Du bist einsam unter Wölfen und kein Engel kann dir helfen“, das Graffito an den Mauern der Weltkneipe gibt den Ton vor. Stahl und Glas mit Schokoladensoße. Parteilichkeit ist in Cottbus grad' so daheim wie bei GRIPSens. Für Kiddies hie, für die kleinen Leute da. Bekömmlich jedoch ist Ludwigs großer Berlin- Jahrhundert-Eintopf aus dem Geiste des Tingeltangels nur als ironisches Märchen. Anders verursacht er einen Hirnwindungskatarrh.
Gegenwart aus guter alter Zeit
Schroth inszeniert die Kolportage, akzentuiert mit einem heftigen Schlag ins grimmig Sentimentale, drückt dafür die Ironie unter die Wahrnehmungsschwelle. Wir blättern im großen Vereinigungsfamilienalbum. Das Staatstheater macht in Rock-Musical-Gefühlsseele, und Stanley Waldens Musike klingt wie Nina Hagen in guter alter Zeit. Das hat zwar wenig zu tun mit den „Gegenwarten“, zu denen der Cottbusser Zonenrand ermutigt werden soll, bereitet aber gelegentlich trotzdem Spaß. Solange die Kräfte auf der Bühne reichen. Im zweiten Teil, nach vierzehnundeinhalb absolvierten Premieren, schleppt es sich nur noch ins rettende Ziel.
Tut nichts, die Stimmung ist gut. Die Reste der DDR-Theatercommunity, darunter PEN-Chef Christoph Hein, feiern fröhliches Wiedersehen. Gelegentlich wagt sich eine Ondulierte auf die Pantoffelrutschbahn, und sonst würdevolle Anzüge trampolinisieren an die Schiffsglocke. Wenn's läutet, gibt's einen Apfel. In Vitrinen stelzen Störche im Brautschleier, ausgeweidete Monitore präsentieren Oberausstatter Scharsichs schräge Fundstücke. Die China-Pfanne dampft, Kakteen stacheln hinterrücks, und glimmender Zimt verbreitet Wohlgeruch. Die Harmlosigkeit kennt keine Grenzen. Aber schließlich: Hier geht's um Kommunikation. Was zählt, ist das Ereignis. Ins Gemengekommen sollen die Zuschauer, miteinander und der Welt. Oder dem, was das Theater ihnen zeigt als Welt.
Ein Stück östlich-verwundeter Seelenlandschaft etwa in Volker Brauns Auftragswerk „Der Staub von Brandenburg“. Als Lyriker und Essayist ein dauernder Widerborst im Vereinigungslande, leidet der Dramatiker Braun seit langem an Schreibblockade und notorischem Müller-Epigonentum. Seine Brandenburg-Fragmente wirken wie wütende Stiche eines Skorpions gegen die eigene Brut. Der letzte Bauarbeiter Brandenburgs in tiefer Identitätskrise; drei Grenzer an der Oder, die Asylantenleichen und Verantwortung weit von sich schieben; einen „Dutzendmann“ kränken Weib- und Arbeitverlust wenig, wenn er nur seinen Landrover wiederbekommt; die Bilderbuch-Arbeitslose, glücklich in ihrem Elend, glücklicher noch im Scheinwerfer der Medien für eine frei erfundene Rettungstat mit anschließender Skinhead-Attacke.
Sozialismusstaub und Gartenzwerg-Grenzer
So ätzt sich Braun durch die Lage der Nation und wird doch den pseudodialektischen Staub nicht los, der als Sehnsucht nach einem Wie-auch-immer-Sozialismus in den Falten seines Werkes haftet. Schroth zeigt himmelhoch schaukelnde Engel und bundesdeutsche Gartenzwerg-Grenzer, Sigrun Fischer im Clinch mit Peter Waschinskys Puppen, Oliver Bäßler als kopfbehenden Brecher und Stürmer hinterm Bauzaun, allein: Brauns sauertöpfische Zynismen sind auch durch Cottbus' Feinstes nicht zu retten. Nicht einmal durch diesmal spürbare Ironie, mit der Schroth gegen die Ergüsse des Gesinnungsfreundes stichelt.
Drum herum um dieses gedankliche und künstlerische Zentrum, mit dem das Theater heimischer Gegenwart auf der Spur bleibt, viel Hausmannskost. Renzo Rossos „Einbalsamierer“, eine mählich witzige Grundsituation (hier: der wachhabende Einbalsamierer an Lenins Leiche) und die für derartige Monologe übliche Reise durch Bedrängnisse des Ich und der Zeit. „Der Profi“ des Serben Dušan Kovaćević, in dem ein Geheimer a.D. einem Oppositionellen von einst die Bruchstücke eines Lebens hinterherträgt. Ein schönes Lesedrama, von Rudolf Koloc erschreckend geheimnislos aufgeblättert. Natürlich der unvermeidliche Daniel Call, der im Hause Schroth immer wieder gern gesehene Dario Fo und allerlei anderes dramatisches Rankenwerk.
Wirklich weit in die Gegenwart öffnen sich Tor und Tür nur in Wladimir Sorokins Räuberpistole „Krautsuppe, tiefgefroren“. Ein Anti-Fundi-Stück, mit (möglicherweise) kritischem Hintersinn. Als russische Mafia-Köche im Kampf gegen eine grüne Ökodiktatur zeigen Berner Schauspielstudenten, wie modernes Theater beschaffen sein kann. Witzig, schnell und ohne realistelnden Klimbim. Ein kleines Wunder in Cottbus, eine echte Theaterfreude.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen