: Globalisierung als Glücksfall
■ Für den französischen Unternehmer und Intellektuellen Alain Minc ist die Globalisierung eine schlichte Tatsache. Er findet es deshalb müßig, wie die französische Linke mit deren Auswirkungen zu hadern. Statt dessen empfiehlt er als Antwort, den sozialen und politischen Raum Europa neu zu gestalten. Der Entwurf, den er in seinem neuen Buch präsentiert, fällt allerdings sehr wirtschaftskonform aus.
Bücher zur Globalisierung haben immer noch Hochkonjunktur. Unter Apokalypse tut es heute kaum noch ein Autor. Nicht so der französische Publizist Alain Minc. In seinem neuesten Buch tritt er den Intellektuellen und „Klageweibern“ vom Schlage der Viviane Forrester entgegen, die die Menschen mit ihren Endzeitvisionen verängstigten und alles nur noch schlimmer machten. Die Globalisierung müsse man hinnehmen wie das Wetter oder einen Akneschub. Und im übrigen sei sie eigentlich ein Glücksfall, auch für Frankreich. Deshalb lautet der Titel der französischen Originalausgabe denn auch „La mondialisation heureuse“ – die glückliche Globalisierung.
Minc hat in zwanzig Jahren zwanzig Bücher geschrieben, darunter „Die deutsche Herausforderung“ (1989), „Die Wiedergeburt des Nationalismus in Europa“ (1991) und „Das neue Mittelalter“ (1994), in Frankreich alles Dauerbestseller. Politologe, Absolvent der Eliteschule ENA, Aufsichtsratsvorsitzender der Zeitung Le Monde, hochkarätiger Wirtschaftsberater, begnadeter Stilist, eigenwilliger Analytiker von rasiermesserscharfem Verstand, dank Filmstarphysiognomie auch „homme à femmes“: Alain Minc gehört in Frankreich wie Alain Duhamel und Bernard Henry-Lévy zu den 25 industrienahen Meinungsmachern, die die Medien beherrschen und deren Kritik an Geld und Establishment immer schwerer vernehmbar wird.
Der gleichermaßen positive wie realistische Grundton von Mincs neuem Buch setzt Akzente nicht nur für die französische Wirtschaftspolitik, sondern auch in der gesamteuropäischen Diskussion. Wir lesen bei ihm: „Auf ökonomischem Gebiet entspricht dem galileischen Prinzip [der Schwerkraft, d.Red.] ein ebenso einfaches Postulat: die Globalisierung ist eine Tatsache. Zur größten Verwunderung der Phantasmenhändler zwingt uns diese so verabscheute Globalisierung keinerlei Modell auf; sie läßt uns die Freiheit, den Wortlaut unseres Gesellschaftsvertrags, das gewählte Gesellschaftsmodell, den gewünschten Grad an Solidarität selbst zu bestimmen, unter der alleinigen Bedingung, daß wir uns nicht mehr darauf versteifen, uns selbst zu belügen und zu täuschen. Aus dieser Perspektive ist die gemeinsame Ausrichtung der Märkte nunmehr die Voraussetzung, den sozialen und politischen Raum Europas neu zu gestalten.“ Es geht also darum, „dem weltweiten Triumph der Ökonomie einen originär europäischen Entwurf entgegenzusetzen“.
In der Umwälzung durch die Globalisierungskrise, eine „Wanderkrise des Kapitalismus“, kann die Welt heute von den philosophischen und historischen Wissenschaften und erst recht der Metaphysik keine Hilfe erfahren. In Mincs Perspektive ist die gemeinsame Ausrichtung der Märkte nunmehr die Voraussetzung, den sozialen und politischen Raum Europa neu zu gestalten. Es müsse dem weltweiten Triumph der Wirtschaft, der Finanzmärkte und der „Analysten“ einen originär europäischen Entwurf entgegensetzen. Unterschiedliche Sozialsysteme würden für verschärfte Konkurrenz unter den Mitgliedsländern sorgen. Marktwirtschaft ist für Minc eine „Führungsmacht ohne Führer“. Durch die Internationalisierungskrise müsse man hindurch, auch wenn Verlierer zu beklagen seien.
Dazu zählt Minc zum Beispiel in Europa die aus dem Arbeitsprozeß Ausgegrenzten oder die „verlorene Region wahrer Armut“, Zentralafrika. Er glaubt, in vier bis fünf Jahren werde sich Asiens Wirtschaft geläutert und gestärkt haben. Sie werde das Fegefeuer hinter sich gelassen haben und wieder ihre Wettbewerbsvorteile ausspielen können. Euroland müsse seinen Schwung dann aus der Binnennachfrage beziehen. Wenn Minc anmerkt, der Euro verweise auf uns selbst zurück und wir brauchten infolgedessen Sündenböcke nicht mehr anderswo auf der Welt zu suchen, so ist das ein kaum verhohlenes Plädoyer für die von Frankreich favorisierte „Wirtschaftsregierung“, die einmal der Europäischen Zentralbank zur Seite stehen soll, auf daß diese ihre Orthodoxie nicht zu weit treibe.
Wie ist der europäische Trend bei der Arbeitslosigkeit umkehrbar, deren Ursache in des Autors Sicht überbezahlte und unterqualifizierte Arbeitnehmer sind? Rechengrößen bei dieser neuen Relativitätstheorie sind, wegen der Unschärfe des Begriffs der Arbeitslosigkeit, nicht nur die absolute Zahl der davon Betroffenen, sondern auch die mittlere Dauer dieses Zustandes. Die Güte eines Gesellschaftssystems werde künftig an der Zahl der von Arbeit Ausgegrenzten geeicht.
Das amerikanische System integriere die working poor, das französische grenze sie aus. Das amerikanische System erzeuge Ungleichheit, ächte aber nicht das untere Segment, wie die meisten gleichmacherischen und damit kontraproduktiven europäischen Systeme es tun. In den angelsächsischen Ländern sind die Reallöhne 1980-1989 um etwa ein Prozent gefallen, in Frankreich sind sie um ein halbes und in Deutschland um zweieinhalb Prozent gestiegen. Hier gebe es die Kurzzeitarbeitslosen, die Scheinarbeitslosen und die Ausgegrenzten. Der Wohlfahrtsstaat bemühe sich um die erste Gruppe, beute die zweite aus und mißhandle die dritte.
Mincs Rezept: Leistungsgerechte Löhne auf einer nach unten offenen Skala und Hoffen auf die Bevölkerungsabnahme. Karl Valentins Erkenntnis, es sei eigentlich schon alles einmal gesagt worden, aber halt noch nicht von allen, trifft auch auf Mincs Ausführungen zu.
Jedenfalls wird die Bewältigung der Globalisierungskrise ebensowenig das Ende der Geschichte herbeiführen, wie das die Implosion des Kommunismus in Osteuropa geschafft hat. Gerade weil Mincs neuestes Ouvre kaum Zauberformeln anbietet, ist es wegen seiner gemäßigt bilderstürmerischen Wahrheiten ein Gewinn für den Leser, der an dem typischen – in der deutschen Übersetzung naturgemäß abgeschwächten – Wortgeklingel und Argumentegefunkel französischer Starautoren keinen Anstoß nimmt. Friedrich Geiss
Alain Minc: Globalisierung – Chance der Zukunft. Zsolnay 1998, 238 Seiten, 32,20 Mark
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