: EmigrantInnenalltag
■ Ausschwärmen und sich durchbeißen: Studien zum vorübergehenden Aufenthalt
Die meisten Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion wollen „es erst einmal bis hierher schaffen, alles weitere findet sich dann schon“. Und das ist nicht einmal falsch: Es gibt immer irgendwelche Unterstützungen, Schulungskurse, Behördenzwänge, so daß es immer weitergeht. Auch spiegeln einem oft die zwangsläufigen Fortschritte beim Reinfinden in diese neue Gesellschaft allein schon genügend Vorankommen wider. Und bei Stagnation richtet man den Blick fest auf die Kinder, denen es einmal besser gehen wird. Leider danken die einem solche Selbstlosigkeit selten. Vielmehr schämen sie sich sogar wegen ihrer unflexiblen Eltern.
Bezeichnenderweise heißt der Hauptkulturträger am Berliner Kollwitzplatz „Nostalgia“. Dabei handelt es sich um einen halbfeministischen Kinderspielplatz, den sich die altansässige Prenzlauer-Berg-Partei bereits als „Montmartre“ verklärt hat. Wenn die Männer hier vielleicht das Getriebe bilden, dann sind die Frauen auf alle Fälle der Motor. So sagte es neulich einmal mein georgischer Tischnachbar im Trinkspruch. Das heißt, es sind vor allem die exilierten Frauen, die ausschwärmen und sich durchbeißen.
Ira 1 beispielsweise war mal Psychologin in Odessa. Jetzt ist sie vor allem damit beschäftigt, ihr Diplom in Europa anerkennen zu lassen. Dann will sie zurück nach Hause, wo ein Euro- Zertifikat noch viel mehr gilt als hier. Gelegentlich arbeitet sie in der Seniorenbetreuung. Weil es langsam immer mehr sieche Postsowjetniks hier gibt, wird auch immer mehr Russisch sprechendes Pflegepersonal benötigt. Einige Russinnen haben sich mit solch einer Dienstleistung bereits selbständig gemacht. Ebenso mit Lebensmittelläden. All die sich geschmackssentimental nach Buchweizenschleim und gefüllten Teigtaschen sehnenden 150.000 Emigranten sind mittlerweile schon eine kleine Kaufkraft-Ballung für sich. Außerdem werben sie unter Deutschen derart für diese russisch- rustikalen Essentials, daß man meint, es handle sich dabei um ein Weltkulturerbe von puschkinhafter Eindringlichkeit.
Ira 2, Agronomin aus Kiew, sucht einen völligen Neuanfang und probiert erst einmal sämtliche Versandhaus-Kataloge und Reklameofferten aus. Sie hat eine neue schöne Wohnung unterm Dach. Außerdem muß sie noch, wie so viele, das Geld zurückzahlen, das sie sich zur Bezahlung ihres Scheinehemanns für die Daueraufenthaltsgenehmigung lieh. Deswegen arbeitet sie in einem Weddinger Billig- Bordell. Neulich war sie krank. Wegen einer Sehnenscheidenentzündung trug sie ihren Arm in einer Schlinge. „Ich wollte unbedingt das Weihnachtsgeschäft mitnehmen“, erklärte sie, „und habe zu vielen Männern einen gewichst“. Ihre (Leidens-)Geschichte scheint mir geradezu paradigmatisch für die Neue Berliner Ökonomie zu sein.
Ira 3 aus Riga geht mit ihrer Freundin Lilja ebenfalls anschaffen. Sie haben ihr Sprachen-Studium in Moskau unterbrochen und wollen, wenn sie genügend Geld zusammenhaben, in Tokio weiterstudieren. Sie sind also nur vorübergehend hier, das aber bereits seit vier Jahren. Beide haben inzwischen einen festen (deutschen) Freund: Das hält sie. Ira 4 ist eine Krankenschwester aus St. Petersburg – mit einer Hebammen-Zusatzausbildung. In Deutschland absolvierte sie nach einigen Strip-Einsätzen eine zünftige SM-Ausbildung in Freiburg im Breisgau. Inzwischen versucht auch sie, ihr Diplom hier anerkannt zu bekommen, und wird das auch schaffen, so, wie sie mit Hyperaktivität ausgestattet ist. Schließlich noch Ira 5: Die Moskauer Biologin hat sich in ihren deutschen Scheinehemann verliebt, wenn man ihr glauben darf, auf alle Fälle lebt sie mit ihm zusammen. Und weil der arbeitslos ist, geht auch sie noch gelegentlich anschaffen. Inzwischen gibt es bereits mehr als ein Dutzend selbstorganisierte russische Escort-Services, wie die Telefonzentralen für Haus- und Hotelbesuche heißen. Dafür ist das Spielhallen-Geschäft, das seit den achtziger Jahren fest in sowjetisch-jüdischer Hand ist, stark rückläufig.
Wenn man die Etablierung russischer Infrastrukturen in Berlin primär an ihren kulturellen und medialen Einrichtungen, die im übrigen ebenfalls von Frauen(-gruppen) gegründet wurden, festmacht, dann übersieht man buchstäblich den feministischen „Untergrund“. Aus diesem „Milieu“, dazu gehören auch noch all die Gelegenheitskellnerinnen und Bardamen, mendelt sich aber das zukünftige Führungspersonal heraus. Schon könnten die mit den oberen 5.000 im Westteil verheirateten Frauen locker einen eigenen „russischen Club“ aufmachen. Und die sich mit den unteren 10.000 liierenden Russinnen sind auch nicht halb so harmlos, wie sie als hilflos hierherverschleppte Herren- Opfer immer wieder in der hiesigen Hauptstadtpresse aufscheinen.
Nicht einmal die Einreiseverbote der deutschen Botschaften in Rußland und der Ukraine – für alle unternehmungslustigen und gutaussehenden Frauen zwischen 18 und 38 – können ihren Euro-Drang bemerkenswert bremsen. Das begann schon vor 150 Jahren mit dem Reiseziel Schweiz und ist jetzt erst die Spitze vom Eisberg. Denn die Verelendung daheim hält an, gleichzeitig räumen hier immer mehr Polinnen und Thailänderinnen das (ökonomisch ebenfalls abschüssige) Feld. In einer solchen Situation können die Frauen sich nur in semisubversive Existenzwürfe krallen und nocturnen Durchhaltewillen demonstrieren. Lilli Brand
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