: Volksfürsorge aus dem Töpfchen
Vom Umstülpen der Welt: Wladimir Sorokin haut in seinem ersten Roman „Norma“ voll auf die Sowjetkacke ■ Von Thomas Wörtche
Norma schmeckt als Brotaufstrich, Norma kann man braten, kochen, roh knabbern, als Suppe anrühren, zum Dessert nehmen oder zwischendurch schnökern. Norma ist, je nachdem, flüssig oder fest. Norma hat man immer bei sich: beim Jagdausflug, beim Schäferstündchen, beim Verprügeln anderer Leute oder beim Teekränzchen. Man kann Norma sogar chemisch so bearbeiten, daß es, destilliert und in einen Flakon gefüllt, als Parfüm betörende Wirkung erzielt.
Selbst Stalingrad-Kämpfer hatten damals schon ihr Norma dabei. Und wer nächtens Norma in den Fluß kippt, ist ein verwerficher Gesell. Kinder jedoch finden, daß Norma ein wenig nach „Kaka“ schmeckt. Das ist auch gar kein Wunder, denn Norma ist schließlich Kinderscheiße, artig ins Töpfchen gemacht und gesammelt in speziellen Kindergärten, hergestellt und vertrieben von einer staatlichen Fabrikationsstelle zur Freude und Verköstigung des Sowjetvolkes.
Bändigung durch Schändigungskataloge
Norma ist das wenig verklausulierte Symbol für das, was die Macht Sowjetunion ihren Untertanen zugemutet hat: Scheiße. Das legt das Manuskript mit dem Titel „Norma“ nahe, das, am Anfang des Romans „Norma“ von Wladimir Sorokin, dem Schriftsteller Boris Gusew vom KGB beschlagnahmt wird. Die Zensurbehörde, als deren Leseinstanz ein 13jähriger Knabe agiert, muß gar nicht sehr erschüttert sein: Denn im Manuskript „Norma“ steht deutlich zu lesen, daß die Mehrheit der Sowjetbevölkerung durchaus weiß, was Norma ist, und durchaus kein Problem damit hat. Norma-Verweigerer sind Außenseiter (Lesben, Dissidenten) und Kinder, die noch nicht normiert sind. Die anderen loben den Fraß in höchsten Tönen.
„Norma“ also, der erste — und erst jetzt übersetzte — Roman von Sorokin (entstanden 1979 bis 1984), ist ein wütender Generalangriff auf das Sowjetsystem, der sich jedoch keineswegs mit dieser koprophilen Formel (alles Scheiße) begnügt. Das „Norma“-Manuskript ist nur der erste Teil einer Manuskriptfiktion. Der zweite Teil besteht aus einer nichtnarrativen Auflistung über 42 Seiten, die das Wörtchen „normal“ adjektivisch mit allen möglichen Dingen und Tätigkeiten des – eben – normalen Alltags kombiniert: von „normaler Ausfluß“ schließlich bis zu „normaler Tod“. Nach der Lektüre ist einem nichts mehr zuwider als Normalität. Gegen die narrative Raffinesse, mit der Sorokin im „Norma“-Manuskript peu à peu enthüllt, was Norma ist und daß die Dutzende von auf- und abtretenden Figuren dies auch wissen, setzt er im zweiten Teil die Absurdität der nichtnarrativen Auflistung. So wie weiland beim Marquis de Sade die narrative Bändigung sexueller Perversionen in den „120 Tagen von Sodom“ bloß noch in Schändungskatalogen münden konnte.
Eine solch dichotome Struktur bestimmt auch Teil drei und vier des Manuskripts. Im dritten geht es um Väter und Söhne im idyllisch ländlichen „Mütterchen Rußland“. Die erste Variante, die von Jagdausflügen, schönen Reden über den russischen Geist, die russische Erde und die russische Seele und schließlich von einer rührenden Liebesgeschichte zwischen dem städtischen Jungmann und einer properen Bauerstochter handelt, wird von der zweiten Variante dementiert. Die erzählt mit denselben stilistischen Mitteln – denen des „russischen Realismus“ à la Turgenjew – ebenfalls vom ländlichen „Mütterchen Rußland“. Hier ist es eine verkommene, versiffte Kolchose, in der Regimegegner zu Tode gehungert und dann als Dünger verwendet werden, bis ein Politkommissar ebenso unmenschlich und buchstäblich dem Kolchosen-Verantwortlichen Feuer unterm Hintern macht.
Die Mittel der „klassischen“, russischen schönen Literatur (ob nun Turgenjew gemeint ist oder Tschechow), so dürfen wir Sorokin verstehen, können zwar falsche Idylle erzählen, aber auch den widersinnigen Terror eines totalitären Systems. Von diesem dritten Teil aus betrachtet, wird auch auch das Verfahren des ersten, des Norma-Teils, verständlich: So wie die als Genußmittel verkleidete Scheiße dort zum Wohle des Volkes durch die Sowjetunion treibt, marschierte einst Gogols „Nase“ (in der gleichnamigen Erzählung) durch St. Petersburg und heischte Autorität, weil sie Uniform trug.
Ein Prosawüten mit kannibalischen Zügen
Auch der vierte Teil des Manuskripts fängt konventionell an: Ein alter Veteran des Großen Vaterländischen Krieges soll für einen hohen Funktionär (einen Wissenschaftler) dessen Landsitz verwalten. Seine Briefe, die wir über diesen Vorgang zu lesen bekommen, heben ganz „normal“ an. Ein netter alter Herr plaudert über die Probleme der Mangelwirtschaft, über die Winkelzüge, damit fertig zu werden, und flicht ein wenig Dorfklatsch ein. Doch zunehmend verzweifelt er ob der Öde seines Daseins.
Der Funktionär antwortet nicht, der Veteran drängelt und quengelt. Und schwingt sich schließlich zu einem verbalen Amoklauf auf, dem am Ende die Worte fehlen. Die letzten 15 Seiten bestehen nur noch aus Gestammel, die allerletzten aus dem Buchstaben „a“. Je mehr der Alte tobt, desto mehr verwandelt er sich von der schlichten russischen Volksseele zum fanatisch eifernden Stalinisten der übelsten Sorte. Seine Gewaltphantasien wenden sich nicht nur gegen den Funktionär, sondern gegen alles „Unrussische“ – Nationalismus und Stalinismus, weißglühend, brabbeln nur noch mörderisches Zeug.
Sorokins Erstling schlägt leitmotivisch all die Töne an, die an seinen späteren Texten („Die Schlange“, „Roman. Ein Roman“ oder „Die Herzen der Vier“) so schaudernd gelobt wurden: Sprachvirtuosität unter Bezug auf die russische Literatur des 19. Jahrhunderts und alle Klassiker der Moderne gleich mit, schockhaftes und tabubrechendes Prosawüten mit koprophagen und kannibalischen Zügen und somit die Verbindlichkeit aller literarischen Semantik dekonstruierend. So konnte er als „grausames Talent“ (Boris Groys) oder als Literat des „Bösen“ (Wiktor Jerofejew) aus dem Wilden Osten im sensationsgierigen Westen reüssieren, weil anscheinend mit allen literaturtheoretischen Weihen à la mode gesalbt.
Alte Lachwelten und groteske Körperlichkeit
Aber Sorokins furiose Attacken auf die totalitäre Sowjetunion brauchen die Nobilitierung via postmoderne Theoriebildung gar nicht. Sie wurzeln nämlich tief in der Tradition der „Gegenweltlichkeit“, die die russische Kultur als „Lachwelten“ schon immer hatte. Denn in ihr gab es stets die „groteske Körperlichkeit“ als Teil einer subversiven Bewegung gegen die Macht. Sorokins koprophage, kannibalische und sonstige verstümmelnden Rituale sind also als Exaltationen dieses grotesk Körperlichen zu verstehen. Dmitri S. Lichačew und Aleksandr M. Pačenko haben diese Tradition an Beispielen aus dem Mittelalter und dem 17. Jahrhundert in ihrer Studie „Die Lachwelt des alten Rußland“ (1976) belegt. Diese Studie steht in direktem Zusammengang mit M.M. Bachtins Theorie der auf dem Weg der Intertextualität hergestellten „Karnevalisierung“: das Umstülpen der Welt. In subversiver und deswegen emanzipatorischer Absicht. Genau dieses Verfahren benutzt Sorokin in „Norma“.
Zwar dreht einem das Buch manchmal den Magen um, aber die attackierten Zustände sind auch mindestens zum Speien. Sorokin wendet gnadenlos die Potentiale der eigenen Kulturgeschichte gegen den Totalitarismus, der diese Kulturgeschichte zum eigenen Frommen okkupiert. Das macht die Attacken so wirkungsvoll und allgemeingültig. Es erklärt auch, warum er in der Sowjetunion nicht gedruckt wurde.
Bleibt nur noch die Frage, warum nach zusammengebrochenen Diktaturen Texte ähnlicher Wucht und Radikalität eigentlich nie aus deutschen Schubladen quellen.
Wladimir Sorokin: „Norma“. Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Du Mont Verlag, Köln 1999, 375 Seiten, 48 DM
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