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„Schuld ist das deutsche Klima“

Immer mehr Ausländer sind in Obdachlosenunterkünften anzutreffen. Der vielbeschworene Familienzusammenhalt funktioniert nur im Heimatland, meint ein Türke, der seit 35 Jahren in Deutschland und seit vier Jahren auf der Straße lebt  ■   Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Die Regeln im Wohnzimmer sind klar: Das TV-Programm wird von der Mehrheit bestimmt. Wer unter Magenbeschwerden oder ständigem Aufstoßen leidet, wird gebeten, in sein Zimmer oder ins Bad zu gehen.

Mustafa F. (Name geändert) kennt die Regeln. Seit Juni vergangenen Jahres lebt der 48jährige in einer gewerblich betriebenen Obdachloseneinrichtung im Bezirk Tiergarten. In der Altbauwohnung, wo es in vier Zimmern zehn Betten für obdachlose Männer gibt, ist er der einzige Türke. Zu seinen Mitbewohnern gehören zwei Deutsche, ein Albaner, ein Vietnamese und ein Aserbaidschaner. Weil zur Zeit nicht alle Betten belegt sind, hat er ein Vier-Bett-Zimmer für sich allein. Seine persönlichen Gegenstände hat er rund um ein Bett aufgestellt. Am Fußende ein Fernseher, in einem Regal über dem Bett Kölnisch Wasser und einige Unterlagen. Probleme mit seinen Mitbewohnern gibt es nicht. Nicht weil sich alle so gut verstehen, sondern „weil alle einen großen Bogen umeinander machen“, wie Mustafa F. sagt. Das gleiche Schicksal muß nicht automatisch Nähe herstellen.

Mustafa F., der mit 12 Jahren von Istanbul nach Düsseldorf kam und sich als Türke und Rheinländer fühlt, ist seit vier Jahren obdachlos. Anzusehen ist ihm das nicht. Der Schnurrbart und die leicht ergrauten Haare sind korrekt geschnitten. Auch hat er – im Unterschied zu vielen anderen Obdachlosen – ein komplettes Gebiß im Mund. „Das lief über das Sozialamt, man muß sich nur kümmern“, sagt er. Seit einem Jahr lebt er in Berlin. Er ist einer der etwa 1.660 Ausländer in der Stadt, die in Notunterkünften untergebracht sind. Vor zwei Jahren waren es noch 1.230. Proportional dazu ist auch die Zahl der deutschen Obdachlosen, die in Notunterkünften leben, von 7.100 auf 8.890 gestiegen.

Der Anfang vom Ende bei Mustafa F. begann mit der Trennung von seiner türkischen Ehefrau, die er 1975 in Düsseldorf kennengelernt und nach drei Monaten geheiratet hatte. Schon bald gab es Probleme mit der angeheirateten Verwandtschaft, die in einem kleinen Dorf in der Türkei lebte.

Nach und nach holte seine Frau ihre drei Schwestern nach Deutschland. Als sie eine von ihnen in der gemeinsamen Zweizimmerwohnung mit Außentoilette einquartierte, eskalierte es. „Ich mußte über die Schwägerin rübersteigen, um mir das Gesicht zu waschen“, erzählt Mustafa F. Als dann 1995 seine Mutter starb, bei der der gemeinsame Sohn in der Türkei gelebt hatte, wurde es noch enger. Der damals 16jährige Sohn kam nach Deutschland. Die Ehe wurde auf eine harte Probe gestellt. Seit geraumer Zeit war Mustafa F. schon ohne Arbeit. Bis 1987 hatte er als Taxifahrer gearbeitet – „schwarz, weil man da mehr verdient“ – und seitdem keine Anstellung gefunden. Mehr und mehr geriet er ins familiäre Abseits. „Meine Schwägerin, meine Frau und mein Sohn schmissen mich schließlich raus“, so Mustafa F. Nach zwanzig Jahren Ehe zog er aus.

Von dem vielbeschworenen Familienzusammenhalt in türkischen Familien kann er nicht profitieren. Obwohl er in Düsseldorf eine Schwester und einen Onkel hat, schlief er mehrere Monate im Park, bis er sich schließlich obdachlos meldete und in einem Sechs-Mann-Zimmer mit Alkoholikern und Drogenabhängigen landete. Nach Berlin kam er durch Zufall. Mustafa F. erzählt, wie er 1995 bei einem Berlinbesuch seinen Ausweis verloren habe und zwei Jahre später in Düsseldorf verhaftet wurde. „Jemand hat Scheiße mit meinem Ausweis gebaut“, sagt er. Dann ging er im vergangenen Jahr wieder nach Berlin, obwohl das Rheinland, wie er mit dem dazugehörigen Dialekt, sagt, seine Heimat sei. Doch hier werde er unterstützt, müsse sich nicht mit Alkoholikern ein Zimmer teilen und komme mit den Sozialarbeitern klar. Außerdem will er nicht unverhofft seine Familie auf der Straße treffen.

Daß er nicht bei Verwandten unterkommen kann, wundert ihn nicht sonderlich. „Der Familienzusammenhalt funktioniert nur im eigenen Land“, sagt Mustafa F. Es liege an dem „deutschen Klima“, daß das hier anders sei. Mustafa F. ist überzeugt, daß ihm die Obdachlosigkeit in der Türkei erspart geblieben wäre. Natürlich gingen auch dort Ehen in die Brüche, doch die Verwandtschaft fange einen auf. Mustafa F. will zwar irgendwann zurück nach Istanbul. Doch im Moment nicht. „Dort kann sich niemand meine Situation vorstellen“, sagt er, „die glauben, Deutschland ist ein Schlaraffenland“.

Mustafa F. ist überzeugt, daß auch seine finanzielle Situation in der Türkei besser wäre. „Dort wird das Geld mehr zusammengehalten, hier wird es verpraßt“, sagt er. Jetzt lebt er von 540 Mark Sozialhilfe und gelegentlichen 3-Mark-Jobs vom Sozialamt. Daß er nicht „ins Milieu“ abrutscht, wie er es nennt, schreibt er seinem Willen zu. „Ich möchte mich aufrappeln“, sagt er. Den größten Teil seiner Zeit verbringt er vor dem Fernseher, manchmal macht er lange Spaziergänge durch die Stadt. Ob er wieder Arbeit findet, weiß er nicht.

„In den letzten anderthalb Jahren ist die Anzahl von ausländischen obdachlosen Männern angestiegen“, sagt die betreuende Diplompädagogin Sigrid Schlaugat. Es seien vorwiegend Türken, Araber und Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die 37jährige, die seit sieben Jahren Obdachlose betreut, weiß von Problemen zwischen arabischen und türkischen Männern und zwischen Deutschen und Ausländern. „Wenn die nachts kochen, kriegt manch Deutscher eine Krise.“ Weil es besonders im Ostteil der Stadt Probleme gebe, versuche man, ausländische Obdachlose in Einrichtungen im Westteil der Stadt unterzubringen. Ausländer würden sich zwar mehr pflegen und weniger Alkohol trinken, beschreibt Sigrid Schlaugat ihre Erfahrungen, seien oftmals aber gewaltbereiter oder handelten mit Drogen. Sie warnt jedoch vor Pauschalisierungen.

Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen, Michael Haberkorn, ist überrascht, daß die Zahl der Ausländer, die in Notunterkünften leben, nicht höher liegt. „Deren Anteil müßte angesichts der sozialen Lage in der Stadt größer sein“, meint er. Daß das nicht der Fall ist, schreibt er dem Familienzusammenhalt zu, der seiner Meinung nach bei hier lebenden ausländischen Familien stärker als in deutschen Familien sei.

Eine Meinung, die Mustafa F. nicht teilen kann. „Zu meinen Verwandten könnte ich nur stundenweise gehen“, sagt er. Solange er auf seinen eigenen zwei Beinen stehen könne, wolle er keinem zur Last fallen.

Mittlerweile ist er zu einem Einzelgänger geworden. Und Mustafa F. weiß: Auch mit einem Dach über dem Kopf ist er obdachlos.

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