Gigantisch und behäbig

■  Die Kritik an der bevorstehenden Gründung der neuen Dienstleistungsgewerkschaft ist stark, doch sie kann sich nicht durchsetzen. „Fusion löst die Probleme nicht“

Peter Schmidt* fürchtet um seine Identität. In den 80er Jahren war er in die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) eingetreten, deren Berliner Zweig als besonders aufmüpfig galt. Nicht nur, daß ein Kapitalist noch ein Kapitalist war, auch die Abschaltung der Atomkraftwerke stand auf der Agenda der Arbeitnehmerorganisation. Jetzt sollen die ganzen Erfolge im Kampf um die Herzen der Beschäftigten für die Katz gewesen sein. Es droht die Verschmelzung mit der moderaten Konkurrenzgewerkschaft DAG. Schmidt: „Die alte, linke HBV geht unter.“

Weil viele das so sehen, lädt die HBV nun regelmäßig zum Jour fixe. Das kritische Grummeln im Bauch der Gewerkschaft ist groß, die praktische Gegenwehr gegen die Gründung der größten deutschen Arbeitnehmerorganisation aller Zeiten jedoch mäßig. Beim letzten Treffen kamen zehn Leute, die sich mit Peter Schmidt gemeinsam über die „aufgeblähte Organisation“ des zukünftigen Gewerkschaftstankers ereiferten.

In der ganzen Bundesrepublik finden gegenwärtig Diskussionen an der Basis statt, in deren Mittelpunkt die sogenannten „Eckpunkte des Zielmodells“ stehen. Unter bislang minimaler demokratischer Mitwirkung haben die Vorstände der Gewerkschaften HBV, DAG, Post, Medien und Öffentlicher Dienst (ÖTV) beschlossen, ab Ende dieses Jahres eine neue Dienstleistungsgewerkschaft mit 3,1 Millionen Mitgliedern zu gründen. Sie wollten die Notbremse ziehen, denn all ihre Organisationen leiden an Schwindsucht: Die Mitglieder laufen davon, und dementsprechend herrscht Ebbe in den Kassen. Aus der Misere soll jetzt die Fusion der unabhängigen Einzelgewerkschaften herausführen.

„Größe sagt nichts über Stärke“, meint Bodo Ramelow, Vorsitzender der thüringischen HBV. Dieser Bezirk bildet neben Baden-Württemberg und Berlin die Speerspitze der bundesweiten KritikerInnen. Und Andreas Köhn, stellvertretender Vorsitzender der Berliner IG Medien, assistiert: „Der Zusammenschluß kann die Probleme nicht lösen.“

Die liegen vor allem dort, wo die Gewerkschaften in ihrer alten Klientel verhaftet bleiben. Die Zahl der Beschäftigten in den traditionellen Betrieben wie Sparkassen, Post und Müllabfuhr sinkt ständig, und neue Mitglieder kommen kaum hinzu. Kultur, Auftreten und Ziele der alten Arbeitnehmerfunktionäre unterscheiden sich radikal von den Ansprüchen der neuen hochflexiblen und arbeitssüchtigen Dienstleister, die in den modernen Multimedia-Agenturen und Callcentern jobben. Warum sollte der 25jährige hochflexible Software-Entwickler einer kleinen Firma nun der gigantischen Dienstleistungsgewerkschaft beitreten?

Daß man „die neuen Arbeitsformen zuwenig beachtet“, wird sich auch mit der neuen Organisationsform nicht unbedingt ändern, meint IG-Medien-Funktionär Köhn.

Die Kritik entzündet sich auch an der Vorbereitung der Gewerkschaftsgründung. „Wir haben es hier mit der Wiedereinführung des demokratischen Zentralismus zu tun“, erzürnt sich der Erfurter HBV-Chef Ramelow. Nicht nur hätten sich die Bundesvorstände geeinigt, das Projekt auf Biegen und Brechen durchzuziehen, auch die internen Strukturen des neuen Gewerkschaftskonzerns machten bislang einen wenig mitbestimmungsfreundlichen Eindruck.

Ramelow meint, daß die gesamte Reorganisation in die falsche Richtung geht. Anstatt einen neuen Giganten aus der Taufe zu heben, müßten analog zum österreichischen Beispiel unter einem starken Dachverband mehr kleinere Einzelgewerkschaften gegründet werden. Wenn die Angestellten der Telefongesellschaften oder der EDV-Firmen eigene Ansprechpartner und Büros hätten, so Ramelow, ließe sich auch der Service für die Zukunftsbranchen wesentlich verbessern.

Wolfgang Biernath, Chef des Gesamtpersonalrats beim städtischen Berliner Müllentsorger BSR, schwärmt dagegen von der „historischen Chance“. Für ihn kommt es vor allem darauf an, daß die „gesellschaftspolitische Kraft“ der neuen Gewerkschaft ungleich höher sein werde als die ihrer Vorgänger. Bei Streiks könnten drei Millionen Mitglieder mehr durchsetzen als ein paar hunderttausend.

Solche Argumente werden sich am Ende wohl durchsetzen. Selbst die KritikerInnen innerhalb der HBV, die immerhin 25 Prozent der Mitglieder ihrer Organisation repräsentieren, werden die Fusion nach eigener Einschätzung nicht verhindern. Beim Gewerkschaftstag im Herbst wollen die Vorstände schon gemeinsame Strukturen beschließen. Fusionskritiker Manfred Birkhahn, Vorsitzender der Berliner HBV: „Das wird wohl so kommen.“

* Name geändert

Hannes Koch

Warum sollte ein 25jähriger Software-Entwickler einer kleinen Firma in die neue gigantische Gewerkschaft eintreten?