piwik no script img

Die Konsequenz

■ Nur mit Diskussion darf heute ein Film über "Kindesmißbrauch" ins Fernsehen (20.15, ARD)

Es soll Zeiten gegeben haben, da haben sie so gutes Fernsehen gemacht, das war besser als das Leben selbst: Zwar gab es viele Probleme, aber immer auch sogenannte Lösungsansätze.

Es gehört zu den Stärken des ARD-Fernsehspiels „Schande“, daß es keine Lösungen zur Verfügung stellt. Wenn ein Mädchen sexuell mißbraucht wird, wirkt selbst ein Sozialarbeiter-Happy-End („Wenn du dir alles von der Seele redest, geht es dir sofort besser“) deplaziert. Und so ist es erzählerisch folgerichtig, daß sich die dreizehnjährige Bénice am Ende einer sehr dichten, ja geradezu verdichteten Spielhandlung vor unseren Augen das Leben nimmt. Freilich hat diese dramaturgische Konsequenz den Bayerischen Rundfunk auf den Plan gerufen. Weil der Film keine Lösungen biete, sondern nur tödliche Verzweiflung aufzeige, könne der gezeigte Suizid womöglich Betroffene zur Nachahmung anregen, meinten die Bayern. Man bat die ARD-Programmdirektion um eine Verlegung in die Nacht, nach 23 Uhr. Andernfalls würde sich der BR aus dem ARD- Programm ausschalten. Solcher vorauseilenden Fürsorge, wie sie in der ARD eine traurige Tradition hat, mußte ein Disput folgen über pädagogische und ethische Bedenken, über Fiktion und Wirklichkeit und überhaupt darüber, was man im Fernsehen zeigen darf. Auch das ist folgerichtig.

Der Film von Burkhard Driest (Buch) und Claudia Prietzel (Regie) hält dieserart Gerede ohne Zweifel aus, denn er erzählt seine Geschichte sehr strikt und unbeirrt: Bénice ist dreizehn, ein Scheidungskind und Opfer sexueller Übergriffe. Lange bleibt im dunkeln, wer der Täter ist. Verdächtige gibt es reichlich: der schmierige Hausmeister, der halbwüchsige Türke, der exaltierte Vater, der zärtliche Stiefvater, der feminine Klavierlehrer. Wer war's? Das Mädchen hält dicht, schmiert nur hin und wieder „Wer hilft mir? Keiner!“ in den Aufzug. Der Hilferuf, den niemand verstehen soll, die Mutter, die nicht hinsehen will, der Richter, der nicht eingreifen kann, der Angeklagte, der sich auf den „Mißbrauch des Mißbrauchs“ beruft: Alle Topoi des Themas werden variiert. Trotzdem wirkt die Geschichte nicht konstruiert. Das ist der schnörkellosen Regie von Claudia Prietzel zu verdanken und den insgesamt souveränen Darstellerleistungen. Vor allem Stephanie Charlotta ist unerwartet überzeugend als das introvertierte Mädchen Bénice. Sie baut soviel Einfühlung für ihre Figur auf, daß es schließlich unerträglich ist, ihr dabei zuzusehen, wie sie stumm den Mißbrauch geschehen läßt.

Und plötzlich wird man gewahr, daß für dieses Mädchen eine Aussage vor Gericht nicht nur das Ende eines Dramas, sondern den Anfang eines neuen bedeutete. „Schande“ berichtet nur von der ersten Tragödie. Der Film will nicht über familientherapeutische Auswege aufklären, sondern einen Einzelfall aufzeigen. Einen, der fiktional verdichtet ist. Der also tragisch endet. Und deshalb so unter die Haut geht.

Es ist zweifelhaft, ob die vom BR so fürsorglich in den Blick genommenen „Betroffenen“ durch die anschließende Diskussion wirklich angesprochen werden. Mißbrauch beruht auch auf Verdrängung. Wie denkbar ist es also, daß ein Mädchen aus Versehen um 20.15 Uhr in einen Mißbrauchsfilm zappt, diesen dann einem Impuls folgend zu Ende sieht, und schließlich „spontan nachahmend“ aus dem Fenster springt? Es ist allerdings durchaus denkbar, daß so manchen Zuschauer das Gesehene auch nach dem Abspann nicht kalt läßt. Und das öffentlich-rechtliche Fernsehen hält sich zugute, die Zuschauer mit ihren Gefühlen nicht immer allein zu lassen (von wegen Lösungsansätze). Nur deshalb ist es nicht falsch, diesem Film eine Diskussion folgen zu lassen. Das Gerede kühlt wieder runter ins richtige Leben. Gewiß, so ein Downer wäre auch an anderen Tagen bei anderen Filmen sinnvoll. Aber wer will schon jeden Tag zur besten Sendezeit diskutieren bis zum Umschalten? Klaudia Brunst

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen