: Abschied von Sonderwegen
Mehr als vierzig Jahre dauerte es, ehe Deutschland von seinen Gegnern im Zweiten Weltkrieg die Souveränität zurückerhielt. Zuvor mußte sich die Bundesrepublik ins westliche System integrieren und sich mit dem Osten aussöhnen. Der Verzicht auf außenpolitische Sonderwege führte nun zur Beteiligung am Kosovo-Krieg. Zu welchem Preis? Teil XIII der Serie „50 Jahre neues Deutschland“ ■ Von Bettina Gaus
Westintegration unter Konrad Adenauer, dem 1949 gewählten ersten Bundeskanzler, die Ostpolitik des Sozialdemokraten Willy Brandt und die immer stärkere Verzahnung des vereinigten Deutschland mit supranationalen Organisationen wie der Europäischen Gemeinschaft: Als dieser Aufsatz konzipiert wurde, schien außer Frage zu stehen, welches die entscheidenden Phasen der Bonner Außenpolitik seit 1949 gewesen sind. Ist gerade eine weitere hinzugekommen? Erleben wir in diesen Wochen mit der Teilnahme Deutschlands an dem nicht erklärten Krieg gegen Jugoslawien den Beginn einer neuen Ära?
Das läßt sich noch nicht entscheiden. Im Angesicht dramatischer Entwicklungen fehlt Zeitgenossen die Distanz, um beurteilen zu können, ob sie Zeugen eines Umbruchs oder eines Umwegs der Geschichte werden. Fest steht aber bereits jetzt, daß zentrale Themen deutscher Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch beim Kampf um den Kosovo eine wichtige Rolle in Bonn spielen: die Fragen der nationalen Souveränität, der Gleichberechtigung mit anderen Staaten und des Handlungsspielraums einer deutschen Regierung.
Niemals sei die Bundesrepublik „wirklich in der Lage gewesen, in vollem Umfang souverän Außenpolitik betreiben zu können“, schreibt der Historiker Gregor Schöllgen. Die Warnungen vor einem deutschen Sonderweg, die seit Beginn der Kosovo-Krise zu hören waren, zeugen in dieser Hinsicht von Kontinuität.
Der Christdemokrat Helmut Kohl hätte die deutsche Einheit nicht ohne die Zusicherung der vollen Integration Deutschlands in die Europäische Union erreicht, deren Hoheitsrechte früher allein nationalen Regierungen vorbehalten waren. Willy Brandt wäre mit seiner Ostpolitik gescheitert, hätte der Entspannungsprozeß damals nicht auch im Interesse der USA gelegen.
Erfolge der Bonner Außenpolitik hingen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stets auch davon ab, ob sich die jeweilige Regierung den Interessen stärkerer Mächte anzupassen verstand. Anpassung ist nicht zu verwechseln mit Vasallentreue: Es galt, eigene Wünsche zu definieren und günstige Gelegenheiten zu ergreifen. Kanzler wie Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl haben das getan.
Brandt ließ seinen Unterhändler Egon Bahr die Möglichkeiten eines deutsch- sowjetischen Gewaltverzichts sondieren und nahm dafür Mißtrauen in Ost und West in Kauf. Und das „Zehn-Punkte- Programm“ für die deutsche Einheit ist ein Alleingang von Helmut Kohl gewesen.
Konrad Adenauer hat den Kurs weit über seine Amtszeit hinaus bestimmt. Die deutsche Wiederbewaffnung und der Beitritt zur Nato, die Mitbegründung von EWG und Euratom, die deutsch-französischen Sonderbeziehungen: Innenpolitisch waren seine Weichenstellungen heiß umstritten. Nachdem Adenauer die Westbindung aber erst einmal vollzogen hatte, war jede weitere Politik unter dieses Gesetz gestellt. „Unsere Ostpolitik basiert auf unserer Westpolitik“, sollte später auch Brandt betonen.
Hatte Konrad Adenauer hinsichtlich der Weichenstellung für die Zukunft eigentlich wirklich eine Wahl? Bis heute ist unter Historikern der Streit nicht entschieden, was von den Stalin-Noten des Jahres 1952 an die Westmächte und auch von früheren Angeboten des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zu halten war, die ein neutrales Gesamtdeutschland zum Ziel hatten. Wäre damals die Wiedervereinigung tatsächlich um den Preis der Westintegration Bonns zu haben gewesen?
Der Bundeskanzler der Alliierten!“ – Um den längst vergessenen Streit über den Eintritt der Bundesrepublik in die Internationale Ruhrbehörde ging es in der Bundestagsdebatte vom November 1949, in der SPD-Oppositionsführer Kurt Schumacher diesen erregten Zwischenruf an die Adresse Adenauers richtete. Symbolkraft erlangte die Beleidigung, deretwegen der SPD-Politiker für die Dauer von zwanzig Sitzungen aus dem Parlament ausgeschlossen wurde, als flammender Protest gegen die Westbindung der Bundesrepublik.
Der Widerstand dagegen, der bis zum Ende der bipolaren Welt vor zehn Jahren nicht gänzlich gebrochen war, speiste sich seit den Gründertagen der beiden deutschen Staaten aus höchst unterschiedlichen Quellen. Er vereinte in ungewollter Allianz Sozialisten und Pazifisten mit denjenigen, die den Ausverkauf nationaler Interessen fürchteten.
Eine „Illusion“ nennt der Publizist Klaus Harpprecht, einst Berater von Willy Brandt, die Vorstellung, „daß eine waffenlose deutsche Existenz zwischen den Fronten des Kalten Krieges denkbar war“. Aus heutiger Sicht scheint es in der Tat wenig wahrscheinlich zu sein, daß sich an der Nahtstelle des Eisernen Vorhangs in der Mitte Europas ungestört eine wirtschaftlich starke Nation ohne Bündniszugehörigkeit hätte entwickeln können. Aber nach dem Grauen des Krieges war die Verlockung einer solchen Zukunft groß.
Kriegsgegner aus Erfahrung waren die achtzehn deutschen Atomphysiker, die 1957 im „Göttinger Mainfest“ eindringlich vor einer atomaren Bewaffnung der Bundesrepublik warnten – anders als die Nachkriegskinder, die Jahre später gegen die im Nato-Doppelbeschluß festgelegte westliche Nachrüstung demonstrierten und heute ratlos schweigen.
Der Vision eines vereinigten, neutralen Deutschland hing auch die Sozialdemokratie lange an. Erst 1960 bekannte sich der damalige stellvertretende SPD-Fraktionschef Herbert Wehner vor dem Bundestag ausdrücklich zu Nato und Westintegration. Bis dahin war es ein weiter Weg gewesen. Über Parteigrenzen hinweg war die deutsche Frage das Brennglas, durch das Bonner Politiker ihren Blick auf die Welt richteten. Bis in die sechziger Jahre hinein bestimmte die Hallstein-Doktrin, die anderen Ländern die Anerkennung der DDR verbieten sollte, das Verhältnis der Bundesregierung selbst zum machtlosesten afrikanischen Staat.
Wohlverhalten im westlichen Sinne wurde finanziell und politisch entlohnt, in der Dritten Welt auch dann noch, als die Doktrin bei den Tonangebenden längst Geschichte war. Das heutige Deutschland mag beklagen, daß es kräftiger als andere zur Kasse gebeten wird, wenn es gilt, Beziehungen zu pflegen. Wundern sollte es sich nicht.
In höherem Maße als für alle anderen Länder Europas galt für das geteilte Deutschland der Satz, daß Außenpolitik immer zugleich auch Innenpolitik ist. Das traf nicht nur für die innerdeutschen Beziehungen zu. Der Kniefall von Willy Brandt vor dem Denkmal der Opfer des Warschauer Ghettos 1970 war ebensosehr ein Signal nach innen wie nach außen. Seine Widersacher haben die Botschaft verstanden. „Dieser Kanzler ist in Gefahr, ein Kanzler nicht nur der Teilung Deutschlands durch Verträge, der Legalisierung des Unrechts, sondern auch der inneren Spaltung unseres Volkes zu werden“, sagte der CSU-Politiker Franz Josef Strauß mit Blick auf den Warschauer Vertrag, der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bedeutete.
Der Streit über die Ostverträge wurde erbittert und persönlich verletzend geführt – aber am Ende enthielt sich die Mehrheit der Unionsabgeordneten im Bundestag der Stimme. Die Opposition ließ 1972 die umstrittenen Abkommen passieren und setzte als Regierung zehn Jahre später die von Brandt begonnene Ostpolitik stillschweigend fort. So wenig, wie sich die SPD dauerhaft der Westintegration hatte verweigern können, so wenig konnte sich die Union dem damals weltweit gewünschten Entspannungsprozeß in den Weg stellen.
Die Weltmächte steckten den Rahmen ab, innerhalb dessen in Bonn Politik gemacht werden konnte. Die Formel „Wandel durch Annäherung“, die Egon Bahr bereits 1963 prägte, entsprach ihren Interessen. John F. Kennedy hatte 1961 in einer Rede deutlich gemacht, daß die Vereinigten Staaten es über die deutsche Frage nicht zu einem Atomkrieg kommen lassen würden – noch im selben Jahr wurde die Mauer gebaut.
USA und Sowjetunion wünschten Abrüstung und Entspannung: Das war die Voraussetzung für die Ostpolitik von Willy Brandt, die ohne das Viermächteabkommen von 1970 über Berlin nicht möglich gewesen wäre.
Konservativen Politikern ist die Abhängigkeit von Entscheidungen anderer lange als Demütigung erschienen. Es müsse verhindert werden,daß „die deutschen Soldaten einen Minderwertigkeitskomplex“ bekämen. So begründete Adenauer 1958 die Entscheidung, die Bundeswehr mit Trägersystemen für taktische Nuklearwaffen auszurüsten. Franz Josef Strauß nannte den Atomsperrvertrag, der Deutschland von der Produktion nuklearer Waffen ausschloß, ein „neues Versailles von kosmischen Ausmaßen“.
Helmut Kohl war der erste Kanzler seiner Partei, der in der Übertragung nationaler Souveränität an eine internationale Organisation – die EU – nicht einen Knebel, sondern eine Chance sah. Mehrfach hat er die Einigung Europas als eine Frage von Krieg und Frieden bezeichnet. Demokratie- und Repäsentationsdefizite der EU nahm er dafür in Kauf.
Die Demokratisierung auch der Außenpolitik war hingegen ein zentrales Anliegen von Willy Brandt und später auch der Grünen. Die Richtschnur zwischenstaatlichen Handelns hatte nicht mehr allein die klassische interessengeleitete Politik zu sein – die Welt sollte auf die Beachtung der Menschenrechte verpflichtet werden. In der Schlußakte der KSZE-Konferenz von Helsinki akzeptierten 1975 auch die Staaten des Warschauer Pakts westliche Vorstellungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten – wenigstens auf dem Papier.
Lassen sich diese globalen Maßstäbe auch nach dem Verlust des Gleichgewichts von Jalta noch durchsetzen? Die Zweifel daran wachsen. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks nehmen regionale Konflikte zu, die sich wie jetzt im Kosovo als ethnische Kriege präsentieren. Im Wunsch, diesen ein Ende zu bereiten, finden sich plötzlich Menschenrechtspolitiker Seite an Seite mit denen, die eine interessengeleitete Außenpolitik verfolgen.
Aber der Schein der Einmütigkeit trügt. Das Bündnis wird nicht halten. Die „klassischen“ Außenpolitiker werden immer nur dort eingreifen wollen, wo ihre Interessen berührt sind. Auf die Dauer können die Verfechter einer neuen humanen Außenpolitik diese Form der Willkür nicht rechtfertigen, wenn sie andererseits einen so dramatischen Schritt tun, Krieg als Mittel der Politik wieder für akzeptabel zu erklären. Es sei denn – sie wechseln die Seite. Und werden klassische Außenpolitiker.
Bettina Gaus, 42, leitet seit knapp drei Jahren das Bonner Büro der taz. Zuvor war sie Afrikakorrespondentin dieser Zeitung in Nairobi
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