: Die Sense im Auge
Visueller Analphabetismus: In Göttingen werden „Interfaces“ des Fotokünstlers Andreas Müller-Pohle gezeigt. Bilder lösen sich in digitale Partituren auf ■ Von Matthias Groll
Unter ohrenbetäubendem Lärm zerfetzt ein Industrieschredder Bilder und Fotografien. Gierig frißt die auf eine Großbildleinwand projizierte Maschine Bildtrümmer in sich hinein. Mit seiner Videoarbeit „Entropia“ inszeniert der Fotokünstler Andreas Müller-Pohle im Alten Rathaus von Göttingen eine Tragödie der Moderne: die Entwertung der zur Fotografie gewordenen Welt. Er rechnet ab mit der eigenen, Bilder produzierenden Zunft.
Müller-Pohle zeigt den Bilderboom als Abfallproblem und treibt den Begriff der Bildauflösung ins Doppeldeutige. Seit Jahren thematisiert der Fotograf die Techniken und die Materialität des Fotografischen, und nicht zufällig nennt er die Ausstellung in seiner Wahlheimat Göttingen „Interfaces“. Die zwölf Projekte zwischen 1977 und 1999 analysieren die Schnittstellen zwischen dem „Klick“ der Kamera, den Aufbereitungsprozessen des Darstellbaren und deren Vergänglichkeit.
So sammelt er für den Zyklus „Signa“ seit zehn Jahren städtische Wahrzeichen in aller Welt. Er bannt sie auf Polaroid, trennt aber Positiv und Negativ nicht wie üblich nach 60 Sekunden, sondern erst zu Hause, nachdem der „Reifeprozeß“ mit dem Erinnerungsdrang korrespondiert: Die Bilder sind reichlich überbelichtet, die Wahrzeichen chemisch zersetzt. Zu Fossilien erstarrt, stehen die zerfressenen Ikonen für den Sog des Vergessens.
Das zerstörerische Moment des Vergessens entspricht dem physikalischen Satz der Entropie, dem zufolge nichts Bestand hat, sondern alles in Unordnung zerfällt. Gegen die Entropie freilich helfen bessere „Gedächtnisse“ wie beispielsweise die Digitalspeicherung. Der Mediendenker Vilém Flusser hat sich zeit seines Lebens für die Digitalcodierung ausgesprochen. Mit Flusser freundschaftlich verbunden, veröffentlichte Müller-Pohle 1983 erstmals die Schrift „Für eine Philosophie der Fotografie“ und machte Flusser im deutschsprachigen Raum populär. Während Flusser philosophische Aspekte der Digitalisierung vertiefte, spiegelt Müller-Pohle den digitalen Umbruch in seinen eigenen Werken wider.
„Interfaces“ meint auch und vor allem technische Aufrüstung. Durch das Iris-Giclée-Verfahren ließ Müller-Pohle ältere seiner Fotografien digitalisieren. Er erhielt neue „Originale“, die sich zu den alten verhalten wie die CD zur Schallplatte. Wider die Entropie des Vergilbens mutierten die perfektionierten Bilder ins Stadium der Variabilität.
Doch ob Zerstörung oder Perfektion, die Interfaces entsprechen dem Reißwolf des Schredders. Er verwandelt die Materie in neue Aggregatzustände. Und die Schnittstelle selbst? Die Chemie des Fotoentwicklers ist in das Geheimnis von Formeln getaucht, und die digitalen Codierer sind in binäre Zeichen gehüllt. Deren Funktionalität zu zeigen, digitalisierte Müller-Pohle die älteste erhaltene Fotografie „Blick aus dem Arbeitszimmer“ von Nicéphore Niepce aus dem Jahre 1826. Er übersetzte die in sieben Millionen Bytes verschlossenen Informationen des Bildes in alphanumerische Zeichen und verteilte sie auf acht Quadrate. Die „Digitalen Partituren“ (1996 – 98) sind ein ästhetischer Wirrwarr an Zahlen und Zeichen, den nur Computer zu lesen vermögen. Die „Partituren“ zersetzen die Fotografie in eine Kryptographie, die nichts abbildhaft zeigt, dafür aber „informiert“. Die Informationen über das Bild verstellen den Blick.
Der Status der „reinen Informationen“ aber ist das Novum der Computer. Um so schockierender, daß uns deren Sprachen zu Analphabeten machen. Würde es den Interfaces nicht gelingen, die Zeichen wieder zum Bild werden zu lassen, so bliebe der Datenaustausch auf das Elektronische der Rechner beschränkt. Müller-Pohle zeigt die digitalen Interfaces als neue Gratwanderung zwischen Erscheinen und Verschwinden: Schon die Entstehung des Originalfotos von 1826 war mit bloßem Auge kaum nachzuvollziehen, denn seine Belichtungszeit hatte etwa acht Stunden gedauert. Die Entstehung im Digitalen wiederum entzieht sich jeder Ansicht, da sie der Lichtgeschwindigkeit des Datenflusses folgt.
So zerschreddert Müller-Pohle durch Manipulation des fotografischen Materials die gewohnte Wahrnehmung. Er zerkratzt und zerschneidet Originale oder verarbeitet sie in den „Zyklogrammen“ (1991 – 94) per Reißwolf zu Konfetti, das er wiederum belichtet. Derart recycelt, deuten die neuen Werke ins Jenseits der Bilder. Was als Gegenutopie zur Offensichtlichkeit der Bildwelt bleibt, ist der blinde Fleck.
Getreu dem Motto „Was ich nicht sehe, fotografiere ich, was ich nicht fotografiere, sehe ich“ suchte Müller-Pohle schon 1979 bis 1982 in der Serie „Transformance“ nach dem „nie gesehenen Blick“: Lange vor der lomograpischen Spaßguerrilla schoß er aus der Hüfte, ohne in den Sucher zu blicken, aus der Bewegung heraus. Die Kamera stellt dem Blick nach, den es realiter nicht gibt.
Auch die neueste Serie der Ausstellung ist sowohl eine Steigerung der Realität als auch Schnittstellenzauberei. „Face Codes“ (1998/99) zeigt die in Kioto und Tokio entstandenen Porträts junger Menschen nach digitalem Lifting: Die Augen- und Mundpartien sind in der Horizontalen einander angeglichen und in die Rhythmik des Digitalen synchronisiert. Der über die Gesichter rasende Scanner ist noch erahnbar, seine Manipulationskraft selbst aber liegt im Off des Gezeigten. So läßt sich mit Flusser sagen: „Wer schreiben kann, kann auch lesen. Aber wer knipsen kann, muß nicht auch unbedingt Fotos entziffern können.“
Andreas Müller-Pohle: „Interfaces – Foto & Video 1977 – 1999“, bis 2. 5., Altes Rathaus, Göttingen. Katalog im Verlag „European Photograph“, www.equivalence.com
Zu Fossilien erstarrt, stehen die unscharfen Bilder als zerfressene Ikonen für den Sog des Vergessens
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