: Sicher ist: Im Kosovo werden Menschen ermordet und vertrieben. Aber genaue Informationen etwa über die Zahl der Vertriebenen sind kaum zu haben. Unabhängige Recherche ist nicht möglich, und alle Kriegsparteien geben ungeprüfte Angaben als Wahrheit heraus Von Rüdiger Rossig
Der unheimliche Krieg der Zahlen
Gestern mittag eröffnete der britische Außenminister Robin Cook der Weltöffentlichkeit, bis zu 400.000 albanische Zivilisten hielten sich in den Bergen des Kosovo vor jugoslawischen Truppen versteckt. Den Menschen mangele es am Nötigsten, insbesondere an Nahrungsmittteln. Der Schönheitsfehler an dieser schockierenden Meldung kam am Schluß: Cooks einzige Quelle ist Hashim Thaqi, Leiter der politischen Abteilung der Kosovo-Untergrundarmee UÇK, mit dem der Außenminister kurz zuvor telefoniert hatte.
Daß ein hoher westlicher Politiker das Ergebnis eines Telefonats nicht etwa als noch zu verifizierende Behauptung, sondern als Wahrheit präsentiert, wirft ein Schlaglicht auf die Berichterstattung zum Kosovo-Krieg. Es ist zur Zeit fast unmöglich, glaubwürdige unabhängige Informationen aus der südserbischen Provinz zu bekommen. Journalisten, die auf albanischer Seite kurze illegale Reisen ins Kosovo hinein wagen, begeben sich in große Gefahr und können kein Gesamtbild der Lage recherchieren. Auf serbischer Seite wird die Bewegungsfreiheit der wenigen ausländischen Journalisten, die zuweilen in die Provinz gelassen werden, scharf eingeschränkt, und selbst ihre Berichte sind zensiert: BBC World Service kündigt vor den Anrufen seiner Korrespondenten extra an, daß diese nicht frei sprechen können, weil sie belauscht werden.
Sicher ist somit derzeit nur, daß im Kosovo weiter Krieg herrscht. Nato-Satellitenbilder und „Drohnen“, unbemannte mit Kameras bestückte Flugzeuge, können gar belegen, wo genau die Kämpfe stattfinden. Auch, daß Häuser und ganze Ortschaften durch das Sprengen und Minieren von Dächern oder Gebäude-Fundamenten unbrauchbar gemacht werden, ist glaubwürdig bestätigt.
Schwieriger wird es, wenn es um die Lage der im Kosovo verbliebenen Menschen geht. Es ist derzeit nicht einmal klar, wie viele der ursprünglich knapp zwei Millionen Bewohner des Kosovo überhaupt noch dort leben. In den serbischen Medien taucht das Drama der Flüchtlinge und Vertriebenen gar nicht auf; die Nato verläßt sich für ihre Meldungen auf die Angaben der UÇK – ideale Voraussetzung für Spekulationen.
Das UN-Hochkommisariat für Flüchtlinge UNHCR versucht, im ständigen Kontakt mit seinen Mitartbeitern vor Ort die Wahrheit zu verorten. Es geht davon aus, daß bereits vor Beginn der Nato-Luftschläge am 24. März 190.000 Menschen aus dem Kosovo vertrieben worden waren und 260.000 innerhalb des Kosovo auf der Flucht waren – also insgesamt 450.000 Menschen. Gestern bezifferte das UNHCR die Zahl der Menschen, die das das Kosovo bereits verlassen mußten, auf 650.000: 300.000 Kosovo-Flüchtlinge seien in Albanien, 180.000 in Makedonien, 100.000 in Montenegro, 50.000 in Serbien und 20.000 in Bosnien- Herzegowina aus. Das macht etwa ein Drittel der Bevölkerung.
Sollte dazu Robin Cooks Zahl von 400.000 Menschen auf der Flucht innerhalb des Kosovo stimmen, würde das bedeuten, daß insgesamt knapp über eine Million Menschen im oder um das Kosovo herum ihre Heimat verlassen mußten. Würde das stimmen, wäre es Milošević' Schergen gelungen, innerhalb kürzester Zeit die Hälfte der Bevölkerung der Provinz zu vertreiben – eine bisher nicht zu verifizierende Aussage. Anders als Robin Cook versucht aber das UNHCR nicht mehr, die Zahl der Binnenflüchtlinge innerhalb des Kosovo zu schätzen. Viele der einstmals 260.000 können ja mittlerweile das Land verlassen haben.
Daß angebliche Fakten oft auf wackligen Beinen stehen, gilt auch für die US-Informationen über systematische Vergewaltigungen albanischer Frauen in einem Trainingscamp der jugoslawischen Armee bei Djakovica, die Pentagon- Sprecher Ken Bacon am Freitag vorlegte. „Zuverlässigen Quellen zufolge“ seien im Südwesten des Kosovo bisher bereits 20 Frauen getötet worden, so Bacon in der ersten offiziellen derartigen Anschuldigung Wahingtons an die Adresse Belgrads seit Beginn der Luftschläge. Inoffiziell hatten verschiedene US-amerikanische Stellen schon seit dem Beginn der Nato-Aktion von „weit verbreiteten Kriegsverbrechen“ gesprochen. US-Sonderbotschafter David Scheffner hatte sich am vergangen Freitag noch zurückhaltend geäußert: In Maßnahmen wie Zwangsumsiedlungen, Zerstörung von Häusern, dem Beschuß ziviler Ziele, dem Schlachten von Tieren und der Vernichtung der Ernte werde die Absicht der serbischen Führung zur „ethnischen Säuberung“ deutlich.
Doch auch wenn die Berichte, die dem Pentagon nun vorlegen, laut Bacon ein „sehr unheimliches und störendes Echo auf die dokumentierten Fälle über Vergewaltigung und Mord an Frauen in Bosnien“ sind – schon im nächsten Satz muß Bacon seine eigene Aussage einschränken: Die Nato werde nun Interviews mit Flüchtlingen führen und auch auf anderen Wege versuchen, die Berichte zu überprüfen.
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