Die Kleinen am Rand

Wenn Kinder fernsehen, bedeutet das nicht mehr Kulturverfall. Einen rechten Platz im Programm haben sie aber immer noch nicht  ■ Von Ania Mauruschat

Alle Väter müßten Bill Cosbys sein: ein erfolgreicher Arzt, der eine siebenköpfige Familie ernährt, aber trotzdem immer zu Hause ist. Wenn seine Kinder in der Schule Frust haben oder Ärger mit ihren Freunden, wenn sie traurig sind oder die Welt erklärt bekommen wollen – immer ist dieser quirlige Vater da, der dafür sorgt, daß seine Kinder nie gelangweilt sind (eher manchmal genervt). Kein Wunder, daß bei den Cosbys so gut wie nie der Fernseher läuft.

Nun leben wir aber in der Wirklichkeit, und das perfekte Familienleben findet wahrscheinlich nur im Fernseher statt – der längst zu einem medialen Familienmitglied geworden ist. Die Eltern von heute gehen meist lockerer mit ihm um, schließlich sind sie selber mit „Flipper“ und den „Waltons“ aufgewachsen – wenn sie denn fernsehen durften. Das Ergebnis: Kinder unter 14 gucken heute durchschnittlich 90 Minuten pro Tag fern. Das klingt zwar nach viel: Aber Kinder stehen bei der Fernsehnutzung ganz hinten, verglichen mit dem Pensum jener Altersgruppen, die gern über die quadratischen Augen der Kleinen meckern (drei Stunden pro Tag bei den 14- bis 49jährigen, vier Stunden bei den über Fünfzigjährigen).

Kinder nimmt man nicht für voll – auch im TV

Dennoch: Das Fernsehen – und nicht ein Bill Cosby – ist es, das da ist, wenn Kinder nach Hause kommen. Seit dem Siegeszug der Privatsender in den 80er Jahren kennt die televisionäre Umsorgung des Kindes kaum noch eine freie Minute. Der Höhepunkt war 1997: Mit 500 Stunden Kinder-TV von Montag bis Freitag plus der Sendeoffensive am Wochenende.

Grund dafür war unter anderem der ARD/ZDF-Kinderkanal, der im Januar 1997 auf Sendung ging – als Antwort auf den Cartoon- Overkill in den Privatprogrammen, besonders beim Kinderkanal Nickelodeon. Der ist wegen zu geringer Quoten im letzten Jahr vom Bildschirm verschwunden. Zudem trug das ZDF zum Rückgang des Kinderangebots bei, das sein Kinderprogramm in der Woche ganz aus dem Programm warf.

Kinder, läßt sich aus solchen Vorgängen schließen, werden in Deutschland nicht für voll genommen – weder gesellschaftlich noch im Fernsehprogramm. „Es gibt keine echte Kinderlobby“, klagte beispielsweise Uwe Rosenbaum, SWR-Funkhausdirektor in Mainz, als Ende März auf den „Tutzinger Medientagen“ über das Thema diskutiert wurde. Rosenbaum weiter: „Kaum eine Autorität setzt sich für Kinder ein. Das merken auch die Macher in den Sendeanstalten, wo wenig Interesse an Kinderproduktionen besteht.“

Über dieses grundsätzliche Problem wurde in Tutzing aber kaum gesprochen. Zumindest einen Fortschritt konnte Kinderkanal- Chef Albert Schäfer erkennen: Vorrangig werde „nicht mehr diskutiert ,ob‘, sondern ,was‘ Kinder sehen sollen“, resümierte er die rund 50jährige westdeutsche Debatte über Kinderfernsehen. Schließlich stand dieses kurz nach seiner Geburt in den 50er Jahren noch ganz unter der autoritären Fuchtel von „Dr. Ilse Obrigs Kinderstunde“ und dem bewahrpädagogischen Fernsehverbot für Kinder unter sechs. Relikte solcher Fernsehverteufelung finden sich heute noch bei Diskussionen wie der um die Säuglingsserie „Teletubbies“, deren drollige Spacemännchen mit dem beschränkten Wortschatz als Beleg für den Untergang des Abendlandes gehandelt wurden.

Daß der Fernseher heute trotzdem eher als harmlose Kunststoffkiste mit Mattscheibe und nicht als krimineller Manipulator gesehen wird, ist die Schuld der 68er: Anfang der 70er Jahre entdeckten Forscher die „frühkindliche Förderung“ und lösten einen regelrechten „Vorschulboom“ aus. Allerdings fehlte es an Geld für Kitas und PädagogInnen, und so mutierte das Fernsehen zum „Kindergärtner“, der mit seinen „Mutmachergeschichten“ den kleinen Persönlichkeiten bei ihrer Entfaltung helfen sollte. Aus dieser Zeit stammen auch die pädagogoisch wertvollen Klassiker wie das „Feuerrote Spielmobil“, die „Rappelkiste“, „Neues aus Uhlenbusch“ und vor allem die immer noch erfolgreiche „Sendung mit der Maus“.

Diese üppigen Zeiten sind längst vorbei, Kinderfernsehen ist immer mehr Markt- als Spielplatz. So begründete das ZDF den Kinderraussschmiß mit dem „Zuschauerfluß“.

ARD/ZDF reden sich auf den Kinderkanal heraus

Angeblich sabotierten die Kindersendungen die Quoten nachfolgender Sendungen, in denen, anders als im Kinderprogramm, geworben werden darf. Oder der Kinderkanal: Ursprünglich hatten die Macher mit einen Etat von 180 Millionen Mark gerechnet. Heute muß er sich immer noch mit 100 Millionen Mark begnügen, obwohl er es in seiner Sendezeit mit 17,4 Prozent Marktanteil bei seiner kleinen Zielgruppe im März auf den zweiten Platz hinter Super RTL (20,6 Prozent ganztägig) geschafft hat.

Dieser Erfolg dient den Mächtigen in den Führungsetagen von ARD und ZDF als Ausrede für ihr Desinteresse am Kind und seinem Kanal. Auch wenn das Programm erfolgreich sei, „gibt es immer noch viel zu viele Kompromisse“, beschwerte sich Albert Schäfer. Rosenbaum forderte: „Die Qualitätsstandards wurden gesetzt, jetzt muß angemessen Geld dafür her.“

Hingegen kann man den privaten Sendern gegenüber wegen dieses „billigen“ Erfolges ganz anders argumentieren, wie Alice Ammermann vom ZDF es auch tat: „Von den Mitteln her wäre es den kommerziellen Sendern genauso möglich, gute Eigenproduktionen zu machen, wie unser ,Siebenstein‘.“ Das hätte auch den Vorteil, daß die Sendungen in einem den Kindern kulturell vertrauten Umfeld spielen könnten und nicht länger auf amerikanischen High-School-Alltag und japanische Zeichentrick- Ästhetik angewiesen wären. Dem wußte Susanne Schosser von Super RTL nur entgegenzuhalten, daß die Sendung „Art Attack“, die in einem Londoner Gemeinschaftsstudio produziert wird, ja einen deutschen Moderator habe. Was auch immer sie beteuern – privaten Sendern geht es nun mal nicht in erster Linie um die Kinder, sondern um ihre Rendite.

Dieses Profitstreben (das vom direkten Zugriff auf das ideale Werbeopfer träumt) ist es, das zur Verspartung führt: Kindersendungen bekommen ihr Ghetto. Und diese Entwicklung macht auch nicht halt vor den öffentlich-rechtlichen Vollprogrammen wie ARD und ZDF, die mit ihrem „Grundversorgungsauftrag“ eigentlich Fernsehen für alle vertreten sollen. Eine Entwicklung, die vielleicht nicht gerade die beste ist, wie auch Ben Bachmair, Professor für Erziehungswissenschaften in Kassel, am Ende der Tagung sagte: „Gerade wegen der Segmentierung und dem Auseinanderdriften der Gesellschaft müssen wir Kinder wieder ins Vollprogramm integrieren.“ Das gleiche gilt für die Gesellschaft.