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Verwalten statt therapieren

Nach ihrer Ankunft in Deutschland schlägt den Flüchtlingen Ratlosigkeit entgegen. Die albanische Community hilft mit Gesprächen und Süßigkeiten  ■   Aus Berlin Julia Naumann

15 Stunden nach der Ankunft wirkt alles schon sehr routiniert. Es ist Mittagszeit, ein Bus lädt braune Stryroporboxen mit Essen für die neu angekommenen Flüchtlinge vor dem riesigen Heim in Berlin-Hohenschönhausen am Rande der Stadt ab.

Die meisten Zimmer sind an diesem Vormittag leer, die Betten gemacht, die wenigen Habseligkeiten bereits im Wandschrank verstaut. Fast alle der 97 Kosovo-Albaner, die am Montag nachmittag aus Skopje nach Berlin ausgeflogen worden sind, scharen sich um einen Bus des Gesundheitsamtes. Die erste bürokratische Maßnahme nach der Ankunft: eine Röntgenuntersuchung wegen möglicher Tuberkoloseerkrankungen. Einige lesen während der Wartezeit die albanische Exilzeitung Bota Sot, in der täglich Listen von Vermißten abgedruckt werden, und reden in leisen Worten miteinander. Ein paar Kinder spielen auf dem spärlichen Rasen vor der Plattenbausiedlung, andere hängen schweigend am Rock der Mutter und starren vor sich hin.

„Die Menschen sind oberflächlich in einem ganz guten Zustand“, sagt Jens Gebhardt, Notarzt aus Brandenburg, der die Flüchtlinge auf dem Flug begleitet hat. Sie seien eine Woche lang in einem Auffanglager in Makedonien zwischen Blace und Skopje „aufgepäppelt“ worden. Dort gab es zwei Hospitäler und sogar einen Spielplatz

Doch: „Die sind psychisch fertig“, sagt Gebhardt. Es klingt hilflos. Während des Fluges habe „Totenstille geherrscht“. Die Kinder hätten allesamt die Schokolade verweigert, die die Ärzte ihnen zustecken wollten. Nur die Kuscheltiere hätten sie genommen, „aber ohne ein Zeichen Freude, ganz apathisch“. Viele von ihnen hatten bei ihrer Ankunft nur Pantoffeln an den Füßen.

Als die Busse im Heim ankommen, herrscht dort eine feierliche, aber auch gespannte Stimmung. 300 Kosovo-Albaner aus der ganzen Stadt haben sich versammelt und wollen die Neuankömmlinge begrüßen. Viele von ihnen haben vor lauter Anspannung Tränen in den Augen, Frauen wie Männer. Ingesamt leben in Berlin rund 10.000 Albaner, die meisten von ihnen sind Flüchtlinge. Vor den Häusern ist ein Buffett aufgebaut, mit Cola, Chips, Schokolade und Zigaretten. Bezahlt haben das die Flüchtlinge des Heimes. Sie haben insgesamt 600 Mark gesammelt.

Rund die Hälfte der Heimbewohner sind Kosovo-Albaner, die in Hohenschönhausen größtenteils seit mehreren Jahren leben. Sie hoffen darauf, daß Verwandte oder Bekannte in den Bussen sitzen. „Wir wollen, daß die Neuen ein herzliches Willkommen haben“, sagt einer von ihnen stolz. Als die Flüchtlinge aussteigen, klatschen alle. Doch nur einer der Wartenden hat Glück: Seine Nichte und sein Neffe sind unter den neuen Flüchtlingen.

Nach der ersten Nacht, erzählt eine Sozialbetreuerin, seien die Flüchtlinge „schon viel glücklicher“. Die meisten wollten nach der Ankunft nur duschen und dann schlafen, schlafen, schlafen. Viele wollen jetzt auch von ihrer Flucht erzählen. Eine albanische Frau, die schon lange im Heim lebt, fungiert als Übersetzerin. „Die Leute erzählen immer wieder die gleiche Geschichte“, sagt sie. Fast schematisch sei das: wie sie aus ihren Häusern vertrieben und von den Serben zur Grenze geschafft wurden. Eine 100jährige Frau sei 70 Kilometer von ihren Verwandten auf einem Küchenstuhl durch die Berge zur makedonischen Grenze transportiert worden.

Wie die Vertriebenen ihre Odyssee verarbeiten, vermag noch niemand abzuschätzen. Weder die Bewohner, die schon in dem Heim leben, noch die Sozialarbeiter vor Ort. Psychologen würden bei „Bedarf“ in das Heim geschickt, sagt die zuständige Amtsärztin. Doch es gibt kein geschultes Personal, das albanisch spricht.Die Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU) plädiert dafür, daß die Flüchtlinge „psychologisch entweder von albanischen Ärzte in den Heimen“ oder besser noch „im Heimatland behandelt werden“.

Die Bürokratie der Behörden funktioniert jedoch reibungslos: Nach der Röntgenuntersuchung werden die Flüchtlinge am nächsten Morgen zur Ausländerbehörde gefahren, um dort erkennungsdienstlich behandelt zu werden. Fast niemand hat mehr Ausweispapiere. Drei Monate dürfen die Flüchtlinge bleiben, das ist die bisherige Planung. „Alles ist perfekt organisiert“, sagt eine deutsche Betreuerin mit einem gewissen Stolz in der Stimme., „Es gibt sogar einen Shuttle-Bus zur Polizei.“ Gestern abend sollten weitere 70 Flüchtlinge in Berlin landen. 220 will die Hauptstadt insgesamt aufnehmen.

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