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: Die Erkundung des Planeten Nabokov

■ Einige Handreichungen zum 100. Geburtstag von Vladimir Nabokov

„Lolita ist berühmt, nicht ich. Ich bin ein obskurer, in zweierlei Hinsicht obskurer Schriftsteller mit einem unaussprechlichen Namen.“ Das ironische Understatement dieser Selbsteinschätzung, die er 1967 in einem Interview lieferte, trifft Vladimir Nabokovs Wirkungsgeschichte recht genau. Denn trotz des Welterfolgs des Romans „Lolita“, der 1955 erschien und in jener prüden Epoche als Pornographie verschrieen wurde und es eben deswegen zum Sensationserfolg brachte, hat sich das Massenpublikum mit Nabokov nie anfreunden können.

Zwar sind die meisten seiner Werke alles andere als hermetisch; sie sind im Gegenteil süffig erzählt, von unvergleichlicher stilistischer Schönheit und sprachlicher Treffsicherheit, oft außerordentlich komisch, gelegentlich sogar „spannend“ im landläufigen Sinn. Aber diese Prosa ist von einer semantischen Tiefenschärfe geprägt, die ihren Reichtum nur freigibt, wenn man den Ambiguitäten und Multivalenzen zumindest ansatzweise zu folgen bereit ist.

Die großartige, von Dieter E. Zimmer besorgte, zweiundzwanzigbändige Ausgabe bei Rowohlt wird nicht nur dem Autor gerecht, sondern eben auch einer Leserschaft, die sich auf eine genaue Erkundung des Planeten Nabokov einläßt.

Die meisten Bände sind neu übersetzt, ältere Übersetzungen überprüft und dem hohen Standard des Herausgebers angepaßt worden. Zudem liefern die Anhänge instruktive Nachworte und Anmerkungen, die den ungeheuren Beziehungsreichtum Nabokovs aufschlüsseln. „Denn Nabokovs Werk ist so geartet“, schreibt Dieter E. Zimmer hinsichtlich des Editionsanspruchs, „daß es solche Scharfeinstellungen nicht nur verträgt, sondern in seiner unermüdlichen Zuwendung zum genauen Detail geradezu nach ihnen verlangt.“ Pünktlich zum 100. Geburtstag Nabokovs am 23. 4. 1999 liegen nun zwölf Bände dieser (teuren) Ausgabe als preiswerte, sehr schön ausgestattete Taschenbücher vor – weitere sollen folgen.

Und mit welchem Buch soll der Nabokov-Unkundige beginnen, wenn ihm „Lolita“ durch die absurden Debatten vielleicht allzu verstellt vorkommt oder ihn der sprichwörtlich gewordene Titel von Nabokovs Autobiographie „Erinnerung, sprich“ schrecken sollte? Ich würde „Fahles Feuer“ empfehlen; allerdings ist dieser Roman in der ersten Taschenbuchlieferung nicht enthalten. Man greife also zu „Pnin“, jenem Roman von 1957, in dem Nabokov die längst zum Genre des Campus-Romans verkommenen Motive und Schauplätze des Universitätslebens auf höchstem Niveau und mit umwerfender Komik verarbeitet hat. Pnin ist ein aus Rußland emigrierter, schrullig-zerstreuter Professor, dem der American way of life Rätsel aufgibt, was ihn zur komischen Figur macht. Der Witz der Geschichte ist freilich der, daß Nabokov im Spiegel dieser Figur die Lächerlichkeit einer Umwelt zeigt, die Pnin verstört. Rowohlt bringt in diesen Tagen auch eine neue Nabokov-Biographie heraus, verfaßt von Brian Boyd. Durchaus brauchbar ist aber auch nach wie vor Boris Nossiks „Nabokov“-Biographie von 1995, die jetzt als Taschenbuch erschienen ist. Nossik ist ein glühender Nabokov-Fan; das macht Teile seines Textes zur Hagiographie, gibt ihm jedoch auch Farbe und erfreulich unakademische Lesbarkeit. In den äußeren Fakten ist Nossik solide und verfolgt Nabokovs abenteuerlichen Lebensweg mit Akribie: Geboren in St. Petersburg, erlebt er als musisches Wunderkind eine glückliche Kindheit, bis die Familie durch die russische Revolution ins Exil gezwungen wurde. Nabokov studierte in Cambridge, lebte dann zehn Jahre in Berlin, floh 1937 nach Frankreich und 1940 weiter in die USA, wo er Professor an der Cornell-Universität wurde. Mit dem Welterfolg von „Lolita“ kam auch das große Geld, so daß er es sich leisten konnte, von 1961 bis zu seinem Tod 1977 im Palace Hotel von Montreux in der Schweiz zu residieren.

„Niemand kann entscheiden“, sagte Nabokov einmal, „ob ich ein mittelalter amerikanischer oder ein alter russischer Schriftsteller bin – oder ein altersloser Freak.“ Er war alles zugleich, zumindest in seinen Werken, deren Erfindungsreichtum in der Literatur dieses Jahrhunderts unübertroffen geblieben ist. Er hat nicht nur seine Erfahrungen mit der Welt beschrieben, sondern hat sich und seinen Lesern eine neue Welt erschrieben – gemäß seinem Motto: „Los doch! Spiel! Erfinde die Welt! Erfinde die Wirklichkeit! Genauso habe ich es auch getan.“ Klaus Modick

Vladimir Nabokov: Gesammelte Werke (in Einzelausgaben). Hrsg. von Dieter E. Zimmer, rororo  Boris Nossik: Nabokov. Eine Biographie. Aufbau TB