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Friedliche Koexistenz

Zwischen Konflikt und Status quo: Die fehlende Identität der Grünen ist ein Folgeproblem des Bruchs mit ihren marxistischen Wurzeln. Das hat Konsequenzen bis zu Doppelpaß und Kosovo-Einsatz  ■   Von Diedrich Diederichsen

Anders als man gemeinhin sagt, sind die Grünen gar nicht aus 68 hervorgegangen. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer massiven Korrektur der 68er Bewegung: nämlich des langsamen, aber unaufhaltsamen Bruchs mit dem Neomarxismus. Korrektur kann freilich, wie wir von Thomas Bernhard wissen, immer auch Selbstmord heißen, dazu später. Ende der 70er, als die K-Gruppen inhaltlich wie organisatorisch an ihr Ende gekommen waren und das linke Milieu in der gleichen Bewegung zerfranste und sich öffnete, entstanden die Grünen. Durch die Therapie der Spontaneität und andere Homöopathika wurde das Milieu Rigidität und Kommandostrukturen los, hatte sich bald neuen Themen zugewandt und neue politische Organisationsformen gesucht. Die Themen drangen teilweise als vernachlässigte Teile der Realität und als Folgeentwicklungen der 68er Kultur (Ökologie, Grenzen des Wachstums, Feminismus), teilweise als verdrängte und abgestoßene Elemente der prämarxistischen 68er Revolte (Natur, Hippietum, Pazifismus, Minderheiten, Menschen- und Bürgerrechte) ins Zentrum der sich nach Stammheim, Punk und Brokdorf reformierenden Szene.

Diese neuen Themen ließen sich theoretisch nicht mehr problemlos mit den zur Verfügung stehenden marxistischen Begriffen bearbeiten. Das hatte mindestens zwei unterschiedliche Gründe: einen theoretischen – ökologische Probleme waren im Industrie- und technikoptimistischen Marxismus nicht vorgesehen – und einen praktischen – Ende der 70er dämmerte es auch dem letzten Maoisten, daß der Marxismus für eine Politik der Menschenrechte eher aus historischen Gründen, aufgrund seiner verheerenden Bilanz als Philosophie von nicht nur Gulag-Betreibern und Steinzeitkommunisten, wenn auch nicht aus theoretischen Gründen diskreditiert sei. Wollte man eine linke Politik der Menschenrechte und der Ökologie entwerfen, die sich ja genealogisch auch aus der Wiederkehr einiger bürgerlich-humanistischer Motive aus der Zeit vor den K-Gruppen herleitete, konnte man sich wenigstens an zwei Punkten nicht mehr oder nur begrenzt an einer der vielen Neomarxismen orientieren. Die neuen Themen Ökologie, Menschenrechte, Minoritäten- und Bürgerrechte und das mit ihnen verbundene Mandat für eine neue Politik öffnete nun aber die grün gewordene Linke auch für praktische Politikformen, die der Neomarxismus in seinen meisten Formen noch als reformistisch verboten hatte: Parlamentarismus, Beteiligung an Wahlen, ja die Gründung einer „bürgerlichen Partei“.

Statt aber die marxistische Kritik am Reformismus oder die ökologische und bürgerrechtliche Kritik am Marxismus als Konflikt auszutragen, lösten die Grünen diesen – und nicht nur aus falschen Gründen – durch Koexistenz. Man leistete sich bis in die späten 80er einen marxistisch orientierten Flügel, der oft irreführenderweise unter dem Begriff „Fundis“ firmierte und gerade bei Fragen des Umgangs mit dem Parlamentarismus, sogenannter politischer Verantwortung (Regierungsbeteiligung) und dem „System“ überhaupt eine entscheidende Rolle spielte. Die in vielen Punkten zu Bündnissen mit allen möglichen Kräften der Gesellschaft bereiten Grünen verdankten den heimatlosen Marxisten in ihren Reihen viele Farbtupfer der Unangepaßtheit, die sie erst richtig kenntlich und auch für Kleinbürger attraktiv machten. Ohne sie hätte sich die Partei schon viel eher aufgelöst.

Der Name „Fundamentalismus“ war insofern falsch, als dieser ja eben nicht aus der spezifisch grünen neuen Orientierung abgeleitet war, aus dessen „Fundamenten“, von denen er etwa nicht weichen wollte. Es handelte sich auch nicht um die kompromißlosere, radikalere Version grüner Politik, sondern repräsentierte eher den anderen, nichtgrünen marxistischen Anteil, der nach wie vor für einen großen Teil des Weltbilds zuständig war – nur eben nicht für diejenigen Entwicklungen, die eigentlich gegen den Marxismus der 70er zur Gründung einer Grünen-Partei geführt haben. Auch die Realos waren nur insofern Realpolitiker, als sie relativ theorielos Politik in den gegebenen Institutionen machen wollten: Oft war aber ihr Verhältnis zu spezifisch grünen Werten sehr viel fundamentalistischer, waren es doch diese Werte, aus denen sich der Bruch mit dem weitgehend marxistisch begründeten Realpolitik-Verbot ableiten ließ. Man muß schon ein „fundamentalistischer“ Öko sein, wenn man Ökologie im Falle eines Falles über die Belange der, sagen wir, Arbeiterklasse stellt und so sein Eintreten für den Parlamentarismus legitimiert.

Die einzige politische Theorie, die einzige Theorie der Macht, die also den Grünen zur Verfügung stand, war eine marxistische, die mal positiv, mal negativ dafür einstehen mußte, wie man sich zu politischer Macht verhielt. Die, die sich negativ darauf bezogen und die aus marxistischer Orientierung abgeleitete Einschätzungen von Staat und Macht als unzeitgemäß ablehnten, hatten aber eben auch keine andere, neue Theorie statt dessen entwickelt. Es gab vor allem keine Theorie, die die aus den spezifisch grünen – neuen – politischen Themen sich ja im Prinzip auch immer noch ergebende Gegnerschaft zu Staat und/oder Kapital beschrieben hätte, so daß, nachdem der marxistische Flügel endgültig erfolgreich aus der Partei geekelt war, keine andere politische Theorie das neue, spezifisch grüne Verhältnis als Opposition zum Status quo mehr bestimmen konnte. Was zu der schlechten Alternative führte, irgendwie weiterzuwursteln oder Forderungen aufzugeben.

Dabei war der Bruch mit dem Marxismus ja nicht nur opportunistisch gewesen. Er hatte einen guten und einen schlechten Grund: Der gute war die Erkenntnis, daß es sich auf real existierende sozialistische Regime weltweit nicht mehr beziehen ließ und daß viele politische, kulturelle, ökologische und auch ökonomische Phänomene von den bekannten Marxismen nicht mehr beschrieben werden konnten; der schlechte, daß seine nach wie vor zutreffenden Analysen politisch-ökonomischer Macht einen zu hohen Anspruch an Tagespolitik stellen würden, eine wirkliche Oppositionspolitik fordern würden und der Linken einst wie jetzt nicht die schlechte Alternative zwischen besinnungslos opportunistischer Realpolitik und dem Rückzug in die Verschwörungstheorien des linksradikalen Rechthabermilieus durchgehen ließen. Mit den guten Gründen entledigten sich die Grünen schließlich nach einem zähen zehnjährigen Prozeß auch der Teile des Marxismus, für deren Eliminierung sie nur schlechte Gründe anführen konnten.

Daß das so leicht ging, lag daran, daß beide Seiten grüner Politik, ein marxistisches Erbe der neuen Linken und ein neues Themenspektrum, das eine andere Politik verlangte, nie miteinander vermittelt waren, sondern auch personell nebeneinanderher existierten. Was den Grünen dabei als Vertreter einer neuen Politik am schmerzlichsten abging, war ein Begriff der politischen Auseinandersetzung, des Konflikts, die etwas anderes war als eine aus alten marxistischen Einschätzungen gewonnene Verweigerung an der Mitarbeit im System. Nachdem die gefallen war, blieb nichts übrig. Dabei hätte man auch als pure Ökologie- und Menschenrechtspartei gute Gründe gehabt, eine neue politische Kultur der Unversöhntheit zu entwickeln. Statt dessen wurde ein anderes, altes, neues Element immer wichtiger für die Orientierung der Grünen und ihren Erfolg bei Mittelschichten: der Pazifismus. Mit dem Kampf gegen das Atom und die Wiederbewaffnung hatten sich ja überhaupt die ersten Regungen dissidenter Gesinnung im Nachkriegsdeutschland gezeigt.

Dieser Pazifismus leistete für die politische Philosophie wie für das Selbstverständnis der Grünen zunächst ähnliches wie die anderen neuen Themen, eröffnete sie im ersten Schritt, um sie im zweiten weitgehend zu entleeren. Im Falle des Pazifismus handelte es sich bei der Entleerung dann vor allem um eine nachhaltige Entpolitisierung. Erfolgreich koppelte er politische Energien an Null-Forderungen und eine Art normativer Emotionalisierung von Politik. So gesehen trug er zur Hilflosigkeit bei, mit der die völlig unvorbereitete Restlinke den Zusammenbruch des Ostblocks und dem Golfkrieg gegenüberstand. Denn er hatte mit Mutlangen-Blockaden über die tatsächlich vollkommene Abwesenheit einer – nicht revolutionären – Konflikttheorie und damit verbunden für eine Kultur politischer Auseinandersetzung hinweggetäuscht. Der Pazifismus war quasi die nach außen gekehrte Seite der Nichtauseinandersetzung zwischen der marxistischen und der nichtmarxistischen Seite der Grünen – ihr gemeinsamer Nenner aus völlig verschiedenen Gründen. Eine nichtrevolutionäre, aber entschiedene und konfliktbereite Idee von der eigenen politischen Gegnerschaft zum gesellschaftlichen Status quo wäre zum Beispiel im Kampf um die doppelte Staatsbürgerschaft wichtig gewesen: ein realpolitisches, bürgerrechtliches Thema, das man aber hartnäckiger, unter Benennung auch der Konfliktgründe, etwa einer aggressiveren Darstellung der Motive der CDU-Unterschriftenaktion, hätte durchfechten können. Nur weil es sich um Realpolitik handelt und man sich zu ihr unumkehrbar entschlossen hat, muß man sich ja nicht in wenigen Wochen eben auch alle realpolitischen Anliegen ausreden lassen. Bürgerrechte sind ein Terrain, auf dem man realpolitisch etwas aushandeln kann, aber auch sie beruhen auf größeren, tieferliegenden Konflikten, die man herausstellen muß. Doch es gibt kein grünes Selbstverständnis, das die Orientierung an antirassistischen Werten auf der einen Seite und das Kontinuum von ethnischem Absolutismus bis zu Rassismus auf der rechten Seite als einen Konflikt formulieren würde, der Wertegemeinschaften, Institutionen und mehr durchzieht und nicht nur auf Ebene parlamentarischer Abstimmungen und Verhandlungen existiert, die man dann prompt verliert.

Die pazifistische Depolitisierung – die ja nicht nur die Grünen in den 80er Jahren getroffen hat –, ist denn auch für die heftigen intellektuellen Streits verantwortlich, die heute wegen des Nato-Einsatzes im Kosovo angeblich quer zu den alten Rechts-Links-Grenzen toben. Dabei geht es oft eben nicht darum zu entscheiden, ob in diesem konkreten Fall diese konkrete Maßnahme durch diese militärische Organisation gerechtfertigt ist. Weil der apolitische Pazifismus so ein unantastbarer Wert war, ist heute, wo dem letzten Pazifisten dämmert, was ja z. B. Marxisten immer schon klar war, daß unter bestimmten extremen Bedingungen der Einsatz militärischer Macht gerechtfertigt ist, nur allzuoft und schnell das direkte Gegenteil der Fall. Wer früher unbedingte Friedfertigkeit forderte, erkennt heute allzuschnell und ohne pragmatische und realpolitische Analyse – z. B. der Spielräume innerhalb der Nato, militärischer Möglichkeiten, Kalkulierbarkeit der Risiken – in jeder Konstellation, an der ein Diktator beteiligt ist, 1938 wieder. Unter dem Eindruck der allerdings trotz allem berechtigten Mißtrauens gegen die Datenlage unabweisbaren Tatsache, daß Miloevic eine völkische und ethnisch-absolutistische Vertreibungspolitik verfolgt, wird ein solches Abwägen schwierig. Aber es gibt bei einem solchen Einsatz natürlich noch ganz andere Ebenen der Auseinandersetzung, zu denen man allerdings nur ein Verhältnis gewinnen kann, wenn man insgesamt gewöhnt ist, in Konflikten und antagonistischen Interessen zu denken.

Grüne, die gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche wieder als größere Einheiten denken und darstellen, bräuchten sich um ihren Nachwuchs auch keine Sorgen zu machen. Oppositionalität, und gerade eine, die sich nicht mehr wie die PDS auf ideologisch fixe, alte Orientierungen zurückzieht, würde von Jugendlichen honoriert, die ja gerade deswegen ihr Interesse an Parteien verloren haben, weil ein Ereignis nach dem anderen, zuletzt der Lafontaine-Rücktritt, zu dokumentieren scheint, daß auch nur minimal oppositionelle Realpolitik nicht möglich ist. Wenn die Grünen – und das geht nur im Zuge einer theoretischen Auseinandersetzung auch mit den verbliebenen Wahrheiten marxistischer Analyse – wieder in der Lage wären, gesellschaftliche Konflikte in ihrem Zusammenhang zu formulieren, dann könnten sie auch die Formen von Oppositionalität entwickeln, die sich aus ihren ja gar nicht immer falschen, bürgerrechtlichen, menschenrechtlichen und hoffentlich auch sozialpolitischen Positionen ergeben, ohne sich ganz an die sozialdemokratische Definition von Realpolitik zu verlieren.

Was sie ehrt, ist, daß sie den moralischen Konflikt, der mit dem Kosovo zu tun hat, wenigstens als Streit und Unsicherheit wenn schon nicht austragen, so doch wenigstens kenntlich machen. Sicherlich sind nämlich all die Positionen falsch, die sich diesem neuen Konflikt nicht stellen und tatsächlich schon aus ihrer Theorie abzuleiten wissen, was zu tun ist. Das ändert allerdings nichts daran, daß die Grünen aus der Regierung Schröder schon viel früher – wegen Doppelpaß, Atomlobbyismus u. a.–, spätestens mit Lafontaine, also schon vor dem Krieg, hätten austreten müssen. Jetzt wird das nicht mehr gehen.

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