: „Die Nato möge euch helfen!“
■ Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch veröffentlicht auf ihrer Internetseite regelmäßig Augenzeugenberichte über Greuel im Kosovo. Wir dokumentieren den letzten Bericht über Massenerschießungen in Bellacerka, der sechzig Menschen zum Opfer fielen
Fünf unabhängig voneinander befragte Zeugen beschreiben gegenüber Human Rights Watch die Exekution von etwa 60 Kosovo-Albanern im Dorf Bellacerka, wenige Stunden nach Beginn des Nato-Bombardements auf Jugoslawien am 24. März. Die Aussagen der Zeugen stimmten auch mit dem Bericht eines sechsten Zeugen überein, der unabhängig von den fünfen von der Tageszeitung „Le Monde“ befragt wurde.
Die Zeugen berichteten übereinstimmend, wie die Bewohner des Dorfes Bellacerka am Morgen des 25. März, gegen 4 Uhr, von serbischen Sicherheitskräften gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen. Etwa eine Stunde zuvor hatten die Serben begonnen, das Dorf anzugreifen. Die Dorfbewohner flohen daraufhin in Richtung des Nachbarortes Rogovo und versteckten sich an den Ufern des Flusses Bellaj. Nur kurze Zeit später wurden die Albaner von den serbischen Truppen entdeckt. Die Familien Clirim Zhuniqi und Xhemal Spahiu, die sich etwa fünfzig Meter entfernt von der Hauptgruppe der Dorfbewohner versteckt hielten, wurden als erste entdeckt. Die Zeugen berichten, daß zwölf Familienmitglieder sofort erschossen wurden. Nur ein zweijähriger Junge überlebte, der unter dem Körper seiner Mutter geschützt gelegen hatte.
Dann war das Gespräch zu Ende – und er erschoß ihn
Nachdem auch die Hauptgruppe der Dorfbewohner entdeckt worden war, versuchte der albanische Arzt Nesim Popaj mit dem serbischen Befehlshaber zu verhandeln. Er versichterte, sie seien keine Mitglieder der UÇK. Der Befehlshaber antwortete: „Ihr seid Terroristen! Die Nato möge euch helfen!“ Während der Dauer der Verhandlungen hatte der Kommandant seinen Stiefel auf den Nacken des siebzehnjährigen Neffen des Arztes gestellt, der vor ihm auf dem Boden lag.
Der Kommandant, der von den Zeugen als mittelgroßer, etwa 35jähriger Mann in grünem Tarnanzug mit drei Sternen auf den Schultern beschrieben wurde, beendete plötzlich die Diskussion und erschoß den Arzt vor den Augen seiner Frau und seiner drei Kinder. Danach erschoß er auch den Neffen.
Daraufhin trennten die Serben Männer von Frauen und Kindern. Die Männer wurden gezwungen, sich auszuziehen. Die serbischen Kämpfer durchsuchten die Kleidung nach Geld, Schmuck und Dokumenten. Die Frauen und Kinder mußten entlang der Bahngleise Richtung Xerxe marschieren, einem kleinen Ort, etwa anderthalb Kilometer südwestlich von Bellacerka. Die Männer sollten Richtung Flußufer gehen, wo die Serben das Feuer auf sie eröffneten. Die Frauen und Kinder, die auf den Bahnschienen entlangliefen, hörten aus der Ferne minutenlang Gewehrsalven.
Human Rights Watch sprach auch mit einem Mann, der ungenannt bleiben wollte und angab, unter der Gruppe der am Fluß niedergeschossenen Männer gewesen zu sein. Er war nur am rechten Arm und an der Schulter getroffen worden. Die Verletzung warf ihn zu Boden und nach kürzester Zeit sei er unter den Körpern toter Dorfbewohner begraben gewesen, die ihn vor den Serben schützten. Wörtlich sagte er: „Ich hatte Glück. Ich stand etwas abseits. Als ich getroffen worden war, warf ich mich in den Fluß und stellte mich tot. Etwa zwanzig tote Körper lagen schnell über mir. Die Serben feuerten noch mehrere Gewehrsalven in die übereinanderliegenden Körper. Ich wurde nicht getroffen, weil ich ganz unten lag.“
Nach etwa einer halben Stunde Stille stand er auf. Neben den Toten im Fluß sah er auch noch die Leichen von sieben älteren Menschen und zwei ihm unbekannte Personen auf einem Feld, etwa hundert Meter vom Flußufer entfernt.
Das Massaker gehört zu einer Serie von Greueltaten
Der Bericht des Zeugen deckt sich relativ genau mit den Aussagen eines anderen Überlebenden, der sich gegenüber dem französischen Journalisten Nathaniel Herzberg von Le Monde äußerte. Auch er berichtet, daß sich die Albaner aus- und wieder anziehen mußten, bevor sie zum Flußufer getrieben und erschossen wurden. Er sagte: „Sie eröffneten gleich das Feuer. Ich wurde ins Wasser geschleudert, andere fielen auf mich drauf. Dann nichts. Fünf Minuten später hörte ich weitere Maschinengewehrsalven aus der Ferne. Nach etwa 20 Minuten bewegte ich mich. Es gab sechs Überlebende, vier waren verwundet. Ich blieb unverletzt. Etwa vierzig Männer waren tot.“
Das Massaker von Bellacerka gehört nach Informationen von Human Rights Watch zu einer ganzen Reihe von Massenexekutionen, die zwischen dem 25. und 27. März verschiedene Dörfer auf einem Sieben-Meilen-Streifen an der Strecke Djakovica – Prizren stattfanden, denen am 26. März auch mindestens vierzig Albaner aus Krusha e Madhe zum Opfer fielen. Es gibt auch Informationen von einzelnen Zeugen, die von Massenerschießungen in den nahegelegenen Dörfern Mala Krusa, Celina und Pirane berichten.
Wahrscheinlich handelt es sich bei dem massiven Auftreten von Massakern in diesem relativ kleinen Bezirk um Vergeltungsmaßnahmen der Serben gegen die UÇK, die für einige Zeit das Gelände nordöstlich von Velika Krusa kontrollierte.
Quelle: www.hrw.org
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