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Pioniere, Patrioten, Träumer

■ Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums, stellte in Berlin seine jüdisch-deutsche Chronik vor. Das Publikum war ziemlich erstaunt

Die 500 Plätze im Festsaal des Jüdischen Gemeindehauses waren bis in die letzte Reihe hinein gefüllt. „Hitler hat nicht gewonnen“ – für Michael Blumenthal ist es das wichtigste Fazit aus „seiner“ 300jährigen jüdisch-deutschen Chronik „Die unsichtbare Mauer“, 517 Seiten stark. Für den Direktor des Jüdischen Museums in Berlin sind die eigenen Vorfahren der „literarische Vorwand“ zur Beleuchtung der Geschichte des deutschen Judentums. Die sei geprägt von der vergeblichen Assimilation, vom Scheitern an der titelstiftenden Mauer antijüdischer Ressentiments. Im Jüdischen Gemeindehaus ließ Blumenthals Lesung das Schicksal seiner sechs Ahnen wieder lebendig werden – am vergangenen Dienstag, dem Geburtsdatum Adolf Hitlers.

„Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, sagte der Amerikaner Blumenthal, „das war für viele Juden Deutschland.“ „Eine Folge“, fügt er hinzu, „der jüdischen Blindheit gegenüber der Realität.“ „Pioniere“, „Erfolgreiche“, „Patrioten“, „Träumer“ hat Blumenthal die Kapitel über seine prominenten Vorfahren genannt. Jüdische Karrieren in Preußen-Deutschland, angefangen mit Jost Liebmann, der im 17. Jahrhundert vom Trödler zum Hofjuwelier des Großen Kurfürsten aufstieg. Ihm folgt Rahel Varnhagen, die zur Generation der Juden gehörte, die die Herkunft verleugnete, um im bürgerlich-intellektuellen Berlin zu verkehren. Der Opernkomponist Giacomo Meyerbeer, der, obwohl durch den Erfolg etabliert, „neurotisch und labil blieb und überall Antisemitismus witterte“, setzt die Reihe fort. Und da ist noch Großonkel Arthur Eloesser, dem „Prototypen des intellektuellen Juden der zwanziger Jahre“, der Publizist wurde, weil ihm die Professur verweigert wurde, und dessen Schriften schließlich von den Nazis verbrannt wurden. Eloesser machte das zum Zionisten, und er entdeckte schließlich Palästina als „gelobtes Land“ .

Im April 1939 ist Shanghai die einzig noch verbliebene Fluchtmöglichkeit für europäische Juden, so auch für die Familie Blumenthal. Michael ist gerade 13. Die Wohnung am Kurfürstendamm wird geplündert, der Vater, Ewald, zeitweise in Buchenwald bei Weimar inhaftiert, wo „es von der Goethe-Eiche nicht weit war bis zum Prügelbock“. Nach gelungener Flucht und langen Ghettojahren im von den Japanern besetzten Shanghai gelangen die Blumenthals schließlich in die USA, wo Michael studiert und eine Karriere in Wirtschaft und Politik startet: Er wird Berater der Präsidenten Kennedy und Johnson und unter Carter Finanzminister.

Doch: „Nicht um den Deutschen zu predigen“ kam Blumenthal mit seinem Buch zurück nach Berlin, sondern um Töne anzuschlagen, die nach den polemischen Goldhagen- und Walser-Debatten ungewohnt dezent und für manche apologetisch klingen: „Es waren viele, die die Mordmaschinerie bedienten“, sagte Blumenthal im Jüdischen Gemeindehaus, „doch es gibt keine Belege dafür, daß die Masse der Deutschen vom Völkermord wußte und ihn gebilligt hätte.“ Eine Einschätzung, die bei so manchem im Publikum „Erstaunen“ weckte: „Die Deutschen wollten die Wahrheit gar nicht wissen“, schallte es aus dem Zuschauerraum. „Die Vorurteile gegen Juden wurden nicht in Deutschland erfunden“, erwiderte Blumenthal, „sie trafen hier aber auf die breiteste Zustimmung.“ Für den Direktor des Jüdischen Museums auch eine Folge „historischer Paradoxien“ durch die „gefährlich exponierte Lage“ des ökonomisch aufgestiegenen Judentums. Die „unsichtbare Mauer“ sei bis heute nicht gefallen. „Noch immer“, sagte Blumenthal, „haben Deutsche und Juden ein anormales Verhältnis zueinander.“ Die nationale Verantwortung der Deutschen werde noch immer als Schuld mißverstanden – kein Boden für ein unbeschwertes Verhältnis. Eine These, die den Widerspruch betroffenener Teilnehmer erregte. „Ich bleibe bei Goldhagen“, sagte Dieter H., der sich im Anschluß ein Buch signieren ließ, „und doch: In Berlin ist ein normales Zusammenleben machbar.“ Christoph Rasch

„Die unsichtbare Mauer“. Carl Hanser Verlag, 49,80 DM

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