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Gedächtnis und Gewalt

Am heutigen Sonnabend gedenken die Armenier auf der ganzen Welt des 24. April 1915. An jenem Tag begann in der Türkei der Genozid am armenischen Volk, dem zwei Drittel der armenischen Bevölkerung zum Opfer fielen: Der erste mit modernen Mitteln betriebene Völkermord der Geschichte. Doch gerade die Geschichtsschreibung tut sich schwer mit den Geschehnissen: Der Genozid wird von türkischer Seite nach wie vor geleugnet, und auch die internationale Politik scheut bis heute vor einer Anerkennung des Völkemords zurück  ■ Von Mihran Dabag

Als von 1915 bis 1916 die im Osmanischen Reich lebenden Armenier Ziel einer systematischen staatlichen Politik der Deportation und Ermordung wurden, zeichnete sich in den Berichten der europäischen Zeugen und in den Stellungnahmen der Diplomatie Unsicherheit ab, wie die beobachtete Radikalität und Systematik zu werten sei. Geleitet von dem Gefühl, mit einer völlig neuen Form der Gewalt konfrontiert zu sein, weil sie von einem in die Moderne strebenden Staat verfolgt wurde, mit modernen Mitteln durchgeführt und von modernen Legitimationen begleitet, begann auch in Deutschland eine Debatte um die Gewichtung von Moral und Politik. Eine Diskussion um die Souveränität staatlichen Handelns und internationaler Bündnispolitik und die Vereinbarkeit mit einem Eintreten für Opfer von Verfolgung und Mord.

Doch nach diesem ersten systematischen Völkermord des 20. Jahrhunderts, der mit 1,5 Millionen Toten auch die westarmenische Geschichte, Kultur und Sprache nahezu vollkommen auslöschte, gingen weder die Erfahrungen der Opfer noch die Erfahrung des Versagens internationaler Diplomatie in ein politisches Gedächtnis ein. Im Gegenteil. Der häufiger zitierte Satz Hitlers, „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ weist darauf hin, daß das Gedächtnis der Politik auf der Seite der Täter ist.

Nach wie vor scheint Völkermord ein erfolgversprechendes Konzept zu sein. Die bisherigen Genozide haben die erwünschten homogenisierenden Ziele für ihre Gesellschaften erreicht. Es wurden die Spuren der auszutilgenden Gemeinschaft aus den Wirtschafts- und Sozialstrukturen der Tätergesellschaften gelöscht. Aber auch die Zugänge der Opfer zu Wissenschaft und Politik zu ihrer eigenen Geschichte, zu Überlieferung, Kultur, Sprache und Glauben nahezu wurden unüberbrückbar unterbrochen.

Die internationale Diplomatie hatte sich angesichts des Genozids an den Armeniern auf das Primat staatlicher Souveränität zurückgezogen. „Doch bin ich der Meinung, daß wir die Maßnahmen wohl in ihrer Form mildern, aber nicht grundsätzlich hindern dürfen“, hatte der deutsche Botschafter in Istanbul, Hans Freiherr von Wangenheim, in einem Telegramm vom 31. Mai 1915 an das Auswärtige Amt empfohlen. Haben wir uns heute von diesem Diktum entfernt? Können wir für die europäische Staatengemeinschaft behaupten, daß sie fähig und bereit ist, nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Ermordung von sechs Millionen Juden einer ausgeübten kollektiven Gewalt auch früherkennend, vorbeugend und verhindernd zu begegnen?

Am 24. April 1915, der zum offiziellen Gedenktag an den jungtürkischen Genozid werden sollte, wurden in Istanbul armenische Intellektuelle, Persönlichkeiten des öffentlichen und politischen Lebens verhaftet und später ermordet. Der Vernichtungspolitik fielen 1915/16 über zwei Drittel der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich zum Opfer. Die Methode der Ermordung war die Deportation selbst: In geplanter Gesamtsystematik waren die Armenier – Dorf für Dorf, Stadt für Stadt – über wochenlange Hungermärsche zu den Massakerplätzen in die Täler der syrischen Wüsten getrieben worden.

Die armenische Gemeinschaft war so wenig ein zufälliges Opfer wie sie das Opfer eines kurzfristigen Gewaltausbruchs, eines Konflikts war. Während zur Erklärung des jungtürkischen Genozids die sozialstrukturellen und identifikatorischen Veränderungen berücksichtigt werden müssen, die mit der Transformation des multi-ethnischen, islamischen Osmanischen Reichs in einen türkischen Nationalstaat einhergingen, hatte der Völkermord an den Armeniern eine neue Form kollektiver Vernichtungsgewalt aufgezeigt: Eine Gewalt, die eingebunden war in ein System planender, ausführender und duldender, autonom wie innerhalb einer Befehlsstruktur handelnder Instanzen und Einzelpersonen. Es ging nicht mehr um Unrechtsmaßnahmen, nicht um Konflikt oder Separatismus, sondern um die Definition eines inneren Fremden angesichts der radikalen Umgestaltung gesellschaftlicher Strukturen.

Im letzten Jahrtausend haben sich zwei armenische Gemeinschaften mit voneinander verschiedenen Erfahrungen, Kulturen und sogar Sprachen entwickelt: Ostarmenien (die heutige Republik Armenien) als Geschichte insbesondere persischer und russischer Fremdherrschaft und Westarmenien als Geschichte der türkisch-osmanischen Herrschaft wie auch einer Geschichte der Diaspora, der Zerstreuung. Die wichtigsten Identitätskonstanten waren der christliche armenische Glaube und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Geschichte der Verfolgungen.

Im Osmanischen Reich wurde Christen und Juden als Religionsgemeinschaften ein – zwar minderrangiger – Status als Gruppe mit Rechten religiös-sozialer Selbstverwaltung in innergemeinschaftlichen Angelegenheiten gewährt. Die umfangreichen Reformen der Tanzimat-Periode (1839 bis 1876) hatten die Emanzipationshoffnungen der Nicht-Muslime geweckt. Unter dem Selbstverständnis als Osmanen hatte insbesondere die armenische Gemeinschaft mit ihrem ökonomischen Aufschwung eine soziale und kulturelle Vorreiterrolle für die osmanische Aufklärung wahrgenommen. Die Tanzimat-Dekrete waren mit den Worten GÛvura gÛvur demiyeceksin verkündet worden: „Du sollst zum Ketzer nicht mehr Ketzer sagen.“ Eine Gleichstellung jedoch wurde als Bedrohung der muslimisch-türkischen Herrschaft gedeutet, als nicht annehmbare Konstellation. Die zunächst politikbestimmenden Fragen nach Macht und Repräsentation wurden mit der Entwicklung einer türkischen Nationalbewegung seit 1850 vervollständigt beziehungsweise ersetzt durch die Frage nach der Identität: der unbedingten, der zu verwirklichenden Identität von Kultur und Territorium, Seele und Glaube, Staat und Volk.

Mit dem Umsturz des 24. Juli 1908 waren die zunächst noch politisch vielfältigen osmanischen Reformkräfte an die Macht des zerfallenden Osmanischen Imperialstaats gekommen. Während die sogenannten Jungtürken über ihre Parteiorganisation IttihÛd ve Terakki (Einheit und Fortschritt) zunächst auch außerhalb des neu eingesetzten Parlaments an der Stabilisierung ihrer Strukturen arbeiteten, war die Atmosphäre im Reich von Hoffnungen auf Aufbruch und Zukunft, Moderne und Fortschritt erfüllt. Die Alleinherrschaft der Jungtürken, die sich nach dem Staatsstreich vom 23. Januar 1913 entfaltete, ließ sich nur über die Ausschaltung alter Eliten und politischer Oppositionen und die gelungenen Anschlüsse von Militär und Regionalverwaltungen in die Konzeption der jungtürkischen Einheitspartei durchsetzen: 1913 existierte keine einzige Berufs- oder Kulturvereinigung mehr, die nicht „Einheit und Fortschritt“ zugehörte.

Die Politik suchte die Einheit von Staatsvolk, Kultur und Territorium auf der Grundlage eines völkisch orientierten Traumes zu verwirklichen, der Vision Turan: eines türkischen Reichs von Thrakien bis zur chinesischen Mauer, das die türkisch sprechenden Völker Mittelasiens, des Irans, Afghanistans und Chinas umfassen sollte. Turan muß dabei als ein „sozialer Terminus“ verstanden werden, so Ziya Gökalp, der wichtigste Ideologe der Jungtürkenbewegung und bis heute hoch geschätzter türkischer Soziologe. Mit der Vision war zwar ein territorialer Anspruch verbunden, sie bezog sich aber auf die Gestaltung eines Volkskörpers – ein bis heute nicht aufgegebenes Ideal.

Die Armenier wurden in der nationalen türkischen Ideologie zum zentralen inneren Feind. Ihr Leben insbesondere in Ostanatolien, im Herzen des türkischen Kernlandes, stand der Verwirklichung der „Einheit der Türken“ entgegen. Der Genozid war keine Eskalation mehr gegen den GÛvur, den verachteten Ungläubigen (wie noch die Massaker während der 1890er Jahre). Es ging nun um das Bereiten eines Raumes für ein türkisches Leben in Einheit und Reinheit.

Seit 1909 war der Genozid an den Armeniern vorbereitet worden durch Entrechtungs-, Enteignungs- und Segregationsmaßnahmen, durch politische Morde, durch den Aufbau von Sondereinheiten des Terrors und durch die aufgrund der Kriegssituation begünstigte Möglichkeit der Einziehung der armenischen Männer in Sonderbataillone.

Genozid heißt, mit dem Wissen um die Radikalität der Tat, dem Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Transformation in kürzester Frist für eine Zukunft zu handeln. Unter diesem Gedanken war die Entscheidung zur vollständigen Deportation der Armenier getroffen worden, zur Liquidation sämtlichen armenischen Eigentums, zur Verleugnung und Zerstörung jeglicher Spuren einer armenischen Anwesenheit. Mit der Ermordung der armenischen Bevölkerung, der Zerstörung von 1.500 Kirchen und Klöstern auf dem Gebiet des historischen Westarmeniens wurde eine lange über den Raum selbst hinaus kulturbestimmende Gemeinschaft aus der Geschichte gelöscht.

Angesichts der Unmöglichkeit, die Orte des Geschehens selbst zu begehen, nicht einmal an den alten historischen Ruinen armenischen Lebens gedenken zu können, wurden die Erzählungen der Überlebenden zur wichtigsten Erinnerung. Das Erinnern des 24. April ist auch heute noch von dem Ringen um das Recht bestimmt, die Erinnerung überhaupt tragen zu dürfen. Noch immer wird das Erinnern in der armenischen Überlebendengemeinschaft von der Leugnung des Geschehens durch die Türkei begleitet – ein Vorgehen, mit dem es gelungen ist, Relativierungsthesen in den wissenschaftlichen Diskursen zu etablieren. Mehr noch: Die Türkei führt heute wieder verstärkte Repressionsmaßnahmen gegen jene durch, die in der armenischen Gemeinde in Istanbul die letzten Zeichen einer vergangenen Geschichte aufrechthalten.

Aber auch international gibt es wenig Unterstützung, durch eine offizielle Anerkennung des Genozids das armenische Gedenken endlich von der Last der Leugnung und Relativierung und der Last zur Beweiserbringung zu befreien. Solange die Türkei den Völkermord an den Armeniern nicht anerkennt, solange sie sogar an ihren Repressionsmaßnahmen gegen die armenische Gemeinschaft und an den Denkmälern für die Täter festhält, schließt sie auch Genozid nicht als Handlungsmöglichkeit aus. Solange den Verleugnungsstrategien in Wissenschaft und Politik nicht entschiedener entgegengetreten wird, bleibt das Gedächtnis auf der Seite der Täter. Die Zukunft der Leugnung ist die Kontinuierung von Täterschaft.

Mihran Dabag ist Direktor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum

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