: Wenn es dunkelt... in Rheinsberg
Nach einem fünfmonatigen Aufenthalt als Stadtschreiber in Rheinsberg verließ ich den Ort Ende November 1997 mit gemischten Gefühlen. Es sind immer die anderen, die mich als fremd brandmarken ■ Von Rajvinder Singh
Rheinsberg ist eine Idylle. Jahr für Jahr zieht es Tausende Besucher zu den wunderschönen Seen und Wäldern, wo einst Friedrich in den jungen Jahren mit Sabinchen (in Bienewalde ist ihre unerfüllte Liebe verewigt), Tucholsky mit Ilse Weil (daraus entstand später sein „Bilderbuch für Verliebte“) und Fontane mit seinen Notizbüchern wanderten, und zum Schloß, wo Friedrich, wie aus seinem eigenen Mund oft zu hören war, die schönste Zeit seines Lebens verbrachte. Zu diesen klassischen Attraktionen kamen nach der Wende die Musikfestspiele hinzu und lassen nun die Zeit des Prinzen Heinrich, der ja ein halbes Jahrhundert – umgeben von Musen – dort verbrachte, noch einmal aufleben.
In der einstigen Königsstadt durfte aber der „Barde“ nicht fehlen. So wurde 1995 auf Initiative des Leiters der Tucholsky-Gedenkstätte, Dr. Peter Böthig, die Stelle eines Stadtschreibers eingerichtet. Bei freier Unterkunft und einem monatlichen Salär von 1.500 Mark sollte dieser die literarische Aura von Rheinsberg wiederbeleben. Ich wurde zum sechsten Stadtschreiber berufen. Jubel. War dies doch die erste literarische Anerkennung hierzulande, wo ich immerhin seit 16 Jahren lebte und seit zwölf Jahren auf deutsch dichtete.
Meine Begeisterung wurde bald gezügelt. Freunde drücken ihre Besorgnis um mich aus und reden von rassistischen Überfällen, die in Rheinsberg in der letzten Zeit stark zugenommen haben sollen. Die Stadt sei mittlerweile als Hochburg der Skinheadszene bekannt, sagen sie und versuchen mich umzustimmen. Die Angst ist mir Widersinn. Bin ich doch ein „dialogsüchtiger“ Mensch.
An einem frühen Julimorgen befinde ich mich nun stolz in dem kleinen, in die Höhe gezogenen, aber schlicht hergerichteten Zimmer im Parterre des Kavaliershauses, das nun bis Ende November mein Zuhause sein wird, neben dem Schloß und direkt gegenüber dem Ufer des Grienericksees. In der Frische der morgendlichen Brise, die durch das offene, übergroße Fenster ins Zimmer strömt und mich berauscht, träume ich von Bataille. Der französische Autor fasziniert mich mit seinen Reflexionen über das Böse im Menschen und das Erotische. Ich las bis in die Vordämmerungsstunden in seinem Buch „Tränen des Eros“ und muß dabei eingeschlafen sein. Ich mag das Träumen am frühen Morgen, weil man zwischendurch kurz aufwachen und wieder einschlummern kann. So träumt man ein wenig bewußt und kann, wenn die Träume schwer sind, sie beliebig beenden.
Die Handlung meines Traums von Bataille ist jedoch viel schöner als die Deutungsversuche vorgeschichtlicher Malerei in seinem Buch. Splitternackt steht er am Ufer des Grienericksees, direkt gegenüber von meinem Fenster wie ein Tourist am Strand, und winkt mir nervös. Die Zeigefinger seiner rechten Hand auf die Heinrichsche Theaterruine richtend, schreit er: „Mein Kopf ist so leer wie dieses Theater. Warum spielt man hier nicht mehr? Die Stadt muß doch für die Touristen Theater spielen, und man muß den Fremden ihre Pforte öffnen! Sie lebt doch von ihnen. Wach auf!“
Ich wache auf, nicht aus Pflichtbewußtsein gegenüber der Stadt oder ihren Besuchern, sondern vielmehr vom Lärm der Bagger, die direkt vor meinem Fenster die Fläche zwischen der Stadtschreiberwohnung und dem See umbuddeln. Es ist gerade sieben Uhr früh, und ich habe noch keine drei Stunden geschlafen. Aus einer biegsamen Nacht ist ein starrer Tag geboren. Bald kommt eine Zeitungsjournalistin aus Berlin.
Das Schloß schlummert vor sich hin. Seine Türme stehen umhüllt von Gerüst und Planen, als trügen sie Bandagen einer Schönheitsoperation. Durch die Kolonnade gelange ich zum Gartenparterre. Auf dem Weg zum Park sehe ich die abgeblätterte Farbe, die von der äußeren Fassade des Schlosses hängt. Sie läßt mich die unter ihr begrabenen Schichten der Geschichte erahnen. Der Park selbst kommt mir ebenfalls noch schläfrig vor. Die darüber hängende Luft ist getränkt vom müden Geruch der Bäume.
Die Journalistin, eine nette, freundliche Deutsche mit dunklen Haaren, hat eine ausgesprochene Sympathie für mich. Sie sagt, sie kenne das Gefühl, als eine Fremde gebrandmarkt und angepöbelt zu werden. Was allein die Haarfarbe alles ausmacht, kommt mir in den Sinn! Ich erzähle ihr von meinem komischen Traum, und sie greift sofort das Stichwort „fremd“ auf, will wissen, ob Rheinsberg mir sehr fremd ist. Ich aber erzähle ihr, das Fremde sei nur dazu da, daß man es sich aneignet. Auf die Frage, ob ich mich überhaupt in Deutschland zu Hause fühle, antworte ich ihr, mein Zuhause sei nicht an irgendeinen geographischen Ort gebunden. Ich habe mein Zuhause in mir selbst und bin deshalb überall zu Hause. Ich führe ein vagabundenhaftes Leben, beziehe meine Kraft daher. Es sind aber immer die anderen, die mich als Fremden brandmarken und mich als solchen fühlen lassen.
Sie bohrt nach und will von den jungen Männern in Kampfanzügen wissen, die schon bei meiner Antrittslesung im Schloß draußen die Motoren aufheulen ließen, um ihre Gegenwart zu behaupten. Ich sehe mich gezwungen, zuzugeben, daß ich mich abends oft unsicher fühle, wenn sich diese kurzgeschorenen jungen Männer an Friedrichs Denkmal, dreißig Meter vor meiner Wohnung, versammeln und reihenweise Bierdosen leeren.
Der Abend im September dämmert ergreifend über den See. Zum ersten Mal bin ich heute die schöne Allee im Boberow gelaufen. Die ersten zwei Monate in Rheinsberg verhalte ich mich wie ein Kind, das gerade seine ersten Schritte versucht. Ich erkunde meine Gegend Schritt für Schritt. Es muß vielen Stadtbewohnern etwas ungewöhnlich, ja sogar seltsam vorgekommen sein, mich Tag für Tag pflichtgemäß, ja sogar demonstrativ durch die Straßen flanieren zu sehen, haben sie doch anfangs zweimal hingeschaut. Mit Gesprächseinladungen in den Augen blicke ich immer wieder in die Gesichter auf der Straße und forsche nach Gefühlsregungen.
Nicht nur die begehrte Landschaft blühender Wälder und Seen interessiert mich, sondern vor allem die Menschen in diesem kleinen Ort, der die geschichtlichen Ein- und Umbrüche spürt, Menschen, die sich umorientieren müssen und neue Entwürfe benötigen. In ihrem einseitig geprägten Deutschsein, denke ich, erleben und beherbergen sie ein Fremdheitsgefühl. Daher sehe ich es als meine Berufung an, zum Bild der Stadt dazuzugehören, die Menschen zu innerer und äußerer Auseinandersetzung anzustiften.
Kam mir Rheinsberg am Anfang wie ein Plüschtier mit schönem fleckigen Fell aus Grünflächen und Seen vor, weich und unverbraucht, worauf die Touristen gern dösten, so erschien es mir mit der Zeit von Läusen befallen. Denn es ist wahr, die Medien schenkten mir Tag für Tag immer mehr Aufmerksamkeit, aber Abend für Abend wurde mir auch ein Stück mehr Unbefangenheit genommen. Ich bin hier überhaupt nicht gleichgültig, denn in dieser Stadt mit 5.000 Seelen hat eine merkwürdige Polarisierung stattgefunden. Es gibt viele, die mir auf der Straße Aufmerksamkeit, ja Achtung entgegenbringen. Laut ihrer Aussage zum Beispiel hat die örtliche Buchhändlerin an die Rheinsberger so viele Gedichtbände von mir verkauft wie noch nie zuvor von einem Autor. Ich werde in Geschäften oft diskret bevorzugt behandelt. Es gibt aber auch einige, die aufgrund meiner Hautfarbe und Herkunft mich nicht nur nicht mögen oder mich hassen, sondern es auch demonstrativ zum Ausdruck bringen. So sind sie von den herabschauenden Blicken und Grinsen auf das regelrechte sprachliche Anpöbeln heraufgestiegen. In einer ruhigen Nacht sogar, gegen halb zwei, begann der Telefonterror. Immer wieder klingelte das Telefon, aber das Gespräch wurde verweigert. In einer halben Stunde dreimal kann man sich nicht verwählen. Vom Notruf der Polizei nicht ernst genommen, muß ich den Stecker herausziehen. Die Angst wächst, denn das Fenster meiner Parterrewohnung hat kein Gitter. Wenn sie jetzt kämen und das wüßten, bräuchten sie nur mit der Faust gegen die Scheibe zu schlagen. Dann wären sie schon drin. Vielleicht ist es sogar so geplant worden. Den Stecker tue ich schnell wieder rein, um im Notfall schnell reagieren zu können. Das Klingeln kehrt wieder zurück, und ich lege den Hörer ab. Ich bewege mich hin und her und warte nur auf das Hellwerden.
Als sich am Himmel das Licht des Tages zeigt, begebe ich mich aus der Wohnung, um Luft zu holen. Der Morgen ist windig. Ich laufe zu meinem Lieblingsplatz am See, sehe ihn taumeln. Die Wellen schlagen ans Ufer wie am Meer. Ich entlade meine Wut in dem kürzesten Gedicht, das ich je schrieb, einem Zweizeiler mit dem Titel „Rheinsberger Stille“: „Vor mir das Meer / In mir der Sturm“.
Der stellvertretende Bürgermeister, Arno Smilgies, ist besorgt um meine Sicherheit. Prompt wird mir ein Handy besorgt, so bin ich Tag und Nacht anrufbereit. Der Kastellan ist mir wohlgesonnen. Und da das Schloß bewacht wird, benutze ich nun mein Zimmer im Schloß, in dem ich tagsüber arbeite, auch zum Schlafen. Als sich der Vorfall herumspricht, höre ich von meinen Bekannten viele andere Geschichten und Vorfälle. Ein Kellner meines Stammlokals, ein blonder Deutscher, der weltoffene Ansichten vertritt, erzählt mir: Nachts ist manchmal die Stadt wie verbarrikadiert. Neulich nach Dienstschluß fährt er abends nach Hause. Am Stadtrand steht ein alter NVA-Kübelwagen quer auf der Straße stadtauswärts. Er muß bremsen und hört eine Stimme: „Halt! SS, Ausweiskontrolle!“ Eine Gruppe von Jugendlichen mit Kampfanzügen und kurzgeschorenen Haaren tritt hervor. Mit einem Blonden können sie scherzen. Er darf nach Hause fahren.
Als der Journalist einer Tageszeitung aus Berlin mich interviewen kommt, hört er in meinem Stammlokal diese Geschichte und verwendet sie. Daraufhin werde ich von der örtlichen Polizei verhört, unter dem Vorwurf, ich würde falsche Sachverhalte behaupten und verbreiten. Als ich aber der Polizei die wahre Informationsquelle des Journalisten nenne, wird der Kellner nicht mal telefonisch gefragt. Nach meinem Zeugenverhör habe ich das Protokoll kopieren lassen. Die Sprache sagt alles. – Rheinsberg hat mir in der Tat viel gegeben!
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