: Esoterik für Weichlinge
In der Allgemeinbildung kommt die Anthroposophie nicht vor. Oder doch? Fünf scheinbare Gewißheiten aus dem gemeinsamen Alltag, offensiv betrachtet ■ Von Claudia Becker
Anthroposophie ist gleich Esoterik. Eine Anleitung zum Stühlerücken findet sich in Rudolf Steiners Werk ebensowenig wie der Schlüssel zum Entziffern von Runen. Dennoch versteht sich die Anthroposophie als Wissenschaft, die den Menschen mit dem Übersinnlichen in Berührung bringen will. Doch die metaphysischen Eindrücke werden weder aromatherapeutisch über die Nasenschleimhäute aufgesogen noch mit Hilfe rhythmischer Gesänge ins Unterbewußtsein geträllert. Der von Steiner methodisch festgelegte „Erkenntnisweg“ erfordert vielmehr stete individuelle meditative Arbeit. Esoterisch ist die Anthroposophie nur insofern, als sich die „Erkenntnisse der höheren Welten“ lediglich einem begrenzten Kreis erschließen sollen. Steiner war allerdings davon überzeugt, daß jeder Mensch diese „Einweihung“ vollziehen kann.
Anthroposophie ist eine Art Sekte. Wer glaubt, mit der Anthroposophie einen weltanschaulichen Einheitsbrei in sich hineinstopfen zu können, irrt. Ein Lehrgebäude, das die Verpflichtung zur vorbehaltlosen Annahme sämtlicher Aussagen Rudolf Steiners beinhaltet, gibt es nicht. Steiner hat seine Zuhörer und Leser stets aufgefordert, seine Verlautbarungen nicht einfach gläubig zu übernehmen. Wegen der drohenden Dogmatisierung der Anthroposophie führte er in seinen letzten Lebensjahren erbitterte Kämpfe mit der Anthroposophischen Gesellschaft – in der heute übrigens nur ein kleiner Teil der Anthroposophen organisiert ist. Die Spannbreite der Personen, auf die die Anthroposophie eine Faszination ausgeübt hat, reicht denn auch von Christian Morgenstern über den Großindustriellen Hanns Voith bis zu Joseph Beuys, von dem jüdischen Dirigenten Bruno Walter bis zu Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess.
Waldorfschüler sind nett, aber lebensuntüchtig. Es ist erstaunlich, wieviel Mitleid diverse Arbeitgeber mit den verweichlichten Waldorfzöglingen haben. Wie ist es sonst zu erklären, daß der SPD-Politiker Freimut Duve die OSZE als Medienbeauftragter vertreten darf und der jungen Dramatikerin Therese Walser erlaubt wird, auf internationalen Bühnen ihre Stükke aufzuführen? Oder sollte auch für sie Gültigkeit haben, was der Schauspieler Christian Quadflieg über seine Waldorfschulzeit behauptet hat – daß sie nämlich bei ihm die entscheidende Voraussetzung geschaffen hat, um im beruflichen Konkurrenzkampf zu bestehen: Selbstvertrauen.
Anthroposophie ist nur etwas für Reiche. Wenn die 17,80 Mark für einen Vortragszyklus von Rudolf Steiner den Durchschnittshaushalt tatsächlich sprengen, ist diese Behauptung richtig. Richtig ist allerdings auch, daß Waldorfschulen als private Institute kostenpflichtig sind und deshalb (trotz einkommensabhängiger Staffelung) von weniger wohlhabenden Eltern für ihren Nachwuchs oft gar nicht erst in Erwägung gezogen werden. Das ist bedauernswert und keinesfalls im Sinne des Erfinders: Seine erste Bildungsanstalt gründete Rudolf Steiner 1919 auf Bitten der Arbeiter der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik als Werkschule für deren Kinder.
Anthroposophie macht häßlich. Wer das behauptet, sollte erst mal selbst in den Spiegel gukken und sich dann fragen, ob in Anbetracht von Bierwampe und Nutella-Po nicht eine kleine biodynamische Fastenkur angebracht wäre. Wahre Schönheit kommt nun mal von innen. Deshalb auch ist es höchstens das Doktrinäre, das der Anmut vieler Steinerianer gewaltigen Abbruch tut. Aber zusammengekniffene Lippen beschränken sich keinesfalls auf Anthroposophen ...
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