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„Da stand dann ein fettes rotes Falsch“

Der Wechsel von einer Waldorf- in eine Regelschule ist eine große Umstellung – für Schüler und Eltern  ■ Von Katharina Körting

„In der Waldorf haben wir keine Noten gekriegt. Da war ich gut in Rechnen. Jetzt hab ich 'ne Fünf.“ Lars Henkel*Nist seit drei Monaten in der dritten Klasse einer Berliner Grundschule. Vorher war er auf einer Waldorfschule in Cottbus. Er geht gerne in die neue Schule. Alle Fächer gefallen ihm, auch Rechnen. Und die neue Lehrerin mag er sehr, obwohl sie ihn von Anfang an genauso streng benotet hat wie die anderen Schüler.

Lars' Eltern sind weniger begeistert. „Die Lehrerin hat uns gleich am Anfang gesagt, daß Lars wahrscheinlich zurückgestuft werden muß“, sagt seine Mutter Hannah Henkel ärgerlich. Sie und ihr Mann hatten große Vorbehalte, ihren Sohn auf eine staatliche Schule zu geben. Wegen eines Umzugs ging es nicht anders. „Es tut mir leid um das Kind“, bedauert Hannah, „weil er sich mit Leistungs- und Zeitdruck auseinandersetzen muß, den ich ihm gerne noch ersparen würde.“

Wissenschaftliche Erhebungen zu der Frage, wie Kinder den Wechsel der Schulsysteme verkraften, gibt es nicht. „Da wissen wir nichts drüber“, so Wolfgang Schulze vom Lehrerseminar für Waldorf-Pädagogik in Kassel, „es herrscht eher die Meinung vor: Wenn sie weg sind, sind sie weg.“

„Es ist häufig anzutreffen, daß unsere Schüler die Methoden und Arbeitsweisen an der Regelschule nicht gewohnt sind und deshalb zurückgestuft werden“, sagt Walter Hiller, Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen in Stuttgart. „Soviel ich weiß, stürzen die Kinder nach einem Wechsel zwar nicht ab. Aber die Kollegen dort können noch so freundlich sein – ihrem Systemzwang können sie nicht entfliehen und müssen doch alle Schüler über einen Leisten scheren.“

Lars scheinen die Noten nicht weiter zu stören. Daß er oft von den Schülern ausgelacht wurde, weil er bestimmte Sachen nicht konnte oder anders machte, erzählt nicht er, sondern seine Mutter. Auch an die regelmäßige Prügel nach dem Sportunterricht, die ihm anfangs zuteil wurden, erinnert der Neunjährige sich nur widerwillig: „Die Jungen haben mich von einer Ecke in die andere geschubst, standen im Kreis um mich. Sie haben nicht gesagt, warum, sie machen's einfach. In der alten Schule haben wir uns eher geholfen oder auseinandergehalten.“ Wütend oder traurig wirkt Lars bei seiner Schilderung nicht. „Die wollen eben gute Noten und helfen sich selten, aber sie brauchen auch keine Hilfe.“

Hannah Henkel hatte Schwierigkeiten mit den neuen Lehrern, fühlte sich nicht genügend einbezogen. „Lars wurde einfach in den Förderunterricht geschickt, ohne daß mit vorher darüber geredet wurde. Er brachte einen Zettel mit, den ich unterschreiben mußte – und das war's.“ In der Waldorfschule wäre so etwas undenkbar gewesen. Da gab es ein enges, auch zeitraubendes Miteinander von Eltern, Lehrern und Schülern. „Die Kinder wurden als ganzheitliche Wesen wahrgenommen“, ergänzt Lars' Vater Jörg. „Ihre individuelle Entwicklung wurde berücksichtigt. Hier wird ihnen stures Wissen eingebleut.“

Hannah Henkel erzählt, wie ihr Sohn im Deutschunterricht der neuen Schule Worte einander zuordnen sollte, statt dessen aber neue Worte gebildet hat. „Da stand dann ein fettes rotes Falsch drunter“, sagt sie, „Leistung nicht erbracht. Dabei hat er doch nur eine andere Leistung erbracht, für die er an der Waldorfschule gelobt worden wäre!“ Auch wenn Lars Mathematikaufgaben auf einem anderen als dem vorgeschriebenen Weg richtig löst, bekommt er eine schlechte Note. „Wir haben uns dann abends hingesetzt und gelernt, wie der Lehrer das gerne haben möchte“, sagt Jörg Henkel resigniert.

Für die Zuwendung zum einzelnen Kind – an der Waldorfschule Standard – bleibt in den häufig überfüllten Regelschulen kaum Zeit. Lars' Eltern erleben die „staatliche“ Pädagogik als eine, in der die Schüler über pure Leistung definiert werden. „Bei Waldorfs gab es positive Motivation, es gab kein Falsch, nur ein Anders“, sagt Jörg Henkel.

Gerade dies, daß Kinder an der Waldorfschule außer vielleicht Fußballspielen oder dem Tragen von Hemden mit Mickymaus-Aufdruck eigentlich kaum etwas falsch machen können, hat Katharina Radow aus Cottbus dazu bewogen, ihre drei halbwüchsigen Kinder auf eine Regelschule zu schicken. Der pädagogische Ansatz der Waldorfschule, die natürliche Neugier der Kinder zu fördern, hat ihr als Ansporn zum Lernen irgendwann nicht mehr gereicht. „Ihnen fehlte jeder Ehrgeiz“, erklärt die alleinerziehende Krankenschwester, „meine Kinder waren mit allem zufrieden, was sie abgeliefert haben, das hat mich geärgert.“ Daß man sich sehr lange sehr wohl fühlen kann an der Waldorfschule, gibt Walter Hiller vom Bund Freier Waldorfschulen zu. „Da läßt man manche Fünfe grade sein, weil die Kinder verschiedene Tempi haben“, sagt er. „Es gibt kein Notensieb. Manche Eltern haben dann schon das Gefühl, ihr Kind bräuchte mehr Druck.“

Während ihre Kinder trotz intensiver Vorbereitungsgespräche mit der Mutter völlig unvoreingenommen im letzten Sommer die neue Schule besuchten, hatte Katharina Radow doch arge Befürchtungen. Teilweise zu Recht, wie sie heute meint: „Die Lehrer sind überlastet mit Bürokratie und können sich gar nicht richtig um die Schüler kümmern.“ Die fünf Jahre, die ihre Kinder auf der Waldorfschule verbracht haben, möchte sie nicht missen. „Ihre Persönlichkeit wurde ausgebildet und geformt, so daß sie jetzt mit starkem Selbstbewußtsein in die Regelschule gehen, auch wenn es anfangs schlechte Noten gab.“

Gleich am ersten Tag haben die Kinder ihr in den Ohren gelegen, daß die neue Schule so häßlich ist, mit Schmierereien an den Wänden, lieblos. „ Und Simon hat vom Sportunterricht erzählt, wie seine Klasse unfähig zu spielen ist“, erinnert sich die Mutter. „Jeder ein Einzelkämpfer, wer den Ball hat, rennt vor.“ Aber dafür setzen sich ihre Kinder jetzt nachmittags hin und lernen: „Die sehen, daß ihnen das 'ne Eins, bringt und entwikkeln endlich Ehrgeiz.“

Lars vermißt seine alte Klasse und Schule ein bißchen. Er hat gerne den Eurythmieunterricht gemacht. Auch das Stricken im Fach „Handarbeit“ und das Geigespielen fand er gut. „Aber die neue Schule reicht mir zum Lernen“, verkündet er pragmatisch und fast so, als wolle er seine Eltern beruhigen. Er will gerne in einen Fußballverein. An der Waldorfschule war Fußballspielen verpönt, weil das Treten sogar eines Balles, so die weitverbreitete Auffassung, zu Aggressionen führe. Seine Eltern zweifeln, ob sie ihm das Fußballspielen erlauben sollen, und denken etwas wehmütig an den musisch-kreativen und sozialen Schwerpunkt an der Waldorfschule zurück.

Doch ein paar Tage später ist Hannah wesentlich optimistischer gestimmt. Sie hätten gerade ein Elterngespräch mit Lars' Lehrerin gehabt, erzählt sie freudestrahlend. „Sie meinte, daß er sich gut in der Schule macht und fast nur Zweien auf dem Zeugnis haben wird. Das ist ein gutes Zeichen, daß er mit der Umstellung gut zurecht gekommen ist.“ Besser und schneller wahrscheinlich als seine Eltern.

ame auf Wunsch der Familie geändert.

„Die Lehrer sind überlastet mit Bürokratie und können sich gar nicht richtig um die Schüler kümmern“

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