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Scheitern auf hohem Niveau

■ Das Literaturarchiv Marbach widmet seine Jahresausstellung Karl Kraus und allem, was er umbrachte. Vor 100 Jahren erschien die erste Ausgabe seiner „Fackel“ – an polemischer Kraft bis heute unübertroffen

Wenn Karl Kraus heute leben würde, was würde er wohl sagen? Zur sprachverhunzenden „Journaille“, zum geistlosen Geschwätz im Fernsehen, zur Aufgeblasenheit der Redakteure, die noch eine halbe Stunde Schweigen zu einem Medienereignis hochstilisieren, zum Voyeurismus, den sexuellen und persönlichen Indiskretionen, zur medialen Aufbereitung von Elend aller Art, zur allgemeinen Korruption: All das hat er schon vor hundert Jahren bekämpft, hat herausgearbeitet, wie die sprachliche Stil- und Geistlosigkeit direkt zum Weltkrieg führten, hat dagegen geschrieben – und ist gescheitert.

Aber auf welchem Niveau! Aus der Weglassung eines einzigen Kommas hat er den Verfall von Geist und Moral destilliert. Noch aus dem winzigsten und nichtigsten Anlaß hat er seitenlange, tiefgründige Abhandlungen zum Geisteszustand Österreichs und Deutschlands entwickelt. Man müßte nur die Namen ändern und für die Kritiker Harden und Kerr, der mit Gedichten zum Krieg hetzte, für den Zeitungszar Bekessy und den Polizeipräsidenten Schober, für Werfel und Bahr andere Namen einsetzen – und schon wäre man auf der Höhe der Gegenwart.

Vor hundert Jahren, im April 1899, ist in Wien die erste Ausgabe der Zeitschrift Die Fackel erschienen, die Kraus zuerst mit Mitarbeitern, von 1911 bis zu seinem Tod 1936 ganz allein geschrieben, redigiert und herausgegeben hat, 922 Nummern. Es war für Wien ein großes Ereignis, als die kleinen knallroten Hefte zum ersten Mal erschienen: „Eines Tages, soweit das Auge reicht, alles – rot. Einen solchen Tag hat Wien nicht wieder erlebt. War das ein Geraune, ein Geflüster, ein Hautrieseln! Auf den Straßen, auf der Tramway, im Stadtpark, alle Menschen, lesend aus einem roten Heft“, schrieb der Jurist Robert Scheu. Dreißigtausend Exemplare wurden verkauft, zweimal mußte er nachdrucken lassen. Kraus' Programm war „kein tönendes ,Was wir bringen‘, aber ein ehrliches ,Was wir umbringen‘ “. Er war engagiert, wütend und polemisch, wenn er ein Unrecht sah, eine Geistlosigkeit las, eine menschenverachtende Tendenz spürte. Kraus war ein scharfer, unabhängiger Denker.

Im Literaturarchiv Marbach ist aus Anlaß des Jubiläums jetzt einiges von dem zu sehen, was er umbrachte. Nicht nur die fackelroten Hefte, von der nur vierseitigen Ausgabe Nr. 888 von 1933 mit seinem berühmten Gedicht vom Verstummen angesichts der Nazis, bis zu der dicken, von Arnold Schönberg selbst gebundenen Sonderausgabe mit seinem großen Theaterstück „Die letzten Tage der Menschheit“. In den Vitrinen liegen Originalbriefe von Kraus in seiner winzigen, krakeligen, aber gut lesbaren Handschrift, mit der er auch die Fackel redigierte. Man sieht Eintrittsbilletts von seinen über siebenhundert Vorlesungen, eine Flugkarte der Luft Hansa, viele Fotos, Briefe und Karikaturen.

Naturgemäß wurde Kraus angegriffen und hatte viele Feinde. Harden zum Beispiel, über den er eine „Erledigung“ und einen „Nachruf“ schrieb, zögerte nicht, zurückzuschlagen. Als Bilanz legte Kraus nach dem ersten Quartal der Fackel vor: „Anonyme Schmähbriefe 236, anonyme Drohbriefe 83, Überfälle 1.“

Viele haben ihn karikiert, oft auch mit deutlich antisemitischer Tendenz. Vor allem aber sieht man in Marbach, daß Kraus auch ein warmherziger, umgänglicher Mann war, mit vielen langjährigen Freunden und Mitstreitern, der intellektuellen Elite der Zeit. Man sieht Fotos und Postkarten von Peter Altenberg, Plakate von Adolf Loos für seinen Vortrag „Ornament und Verbrechen“, den regen Briefwechsel mit Herwarth Walden zur Gründung seiner Zeitschrift Sturm, an der Kraus regen Anteil nahm, Titel und ein Programm vorschlug und Geld und seine Mitarbeiter stiftete. In den Vitrinen liegen auch Dankestelegramme von Hesse und Freud und ein kitschiges Gedicht von Else Lasker-Schüler, die ihn anhimmelte. Auch der Privatmann Kraus ist zu erkennen, seine Freundschaften mit Mechthilde Lichnowsky, Annie Kalmar, Sidonie von Nadherny. Sein Übertritt zum katholischen Glauben wird durch das Taufgeschenk von Adolf Loos, ein etwa fünzig Zentimeter hohes Kreuz, dokumentiert. Daß er wieder ausgetreten ist, bleibt unerwähnt.

Doch wie so häufig in Marbach bleibt die Ausstellung papieren und an der Oberfläche. Die eng beieinander stehenden Vitrinen sind vollgestopft und oft unzureichend kommentiert. Wer es nicht schon weiß, kann hier nicht erfahren, wer denn Annie Kalmar war, was das Verhältnis mit Sidonie von Nadherny ausmachte (oder gar, zu welchen antisemitischen Äußerungen Rilke fähig war), was das ambivalente Verhältnis zum Judentum, zur Psychoanalyse. Etwas weniger Breite und etwas mehr Durcharbeitung, etwas weniger Fülle und etwas mehr Ruhe hätten dieser Ausstellung gutgetan. Nur der Katalog mit seinen fünfhundert Seiten ist, wie immer in Marbach, tadellos. Aber wer will den während der Ausstellung schon lesen? Nein, eine Ausstellung will man sehen und genießen.Interessantere Ausstellungskonzepte gibt es durchaus; in Marbach scheint man sie leider immer noch nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Georg Patzer ‚/B‘„Karl Kraus – Die Fackel“. Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv, Marbach am Neckar. Bis 31. Oktober, täglich 9 bis 17 Uhr. Katalog, 532 S., 36 DM. Außerdem erscheinen im Lauf des Jahres zum Katalog fünf Beihefte à 40 DM.

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