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Im Glasscherbenviertel

Wie im oberpfälzischen Weiden Kinder aus dem Kosovo mit dem Krieg umgehen – und ihn doch vergessen sollen  ■ Von Jens Rübsam

Das „Glasscherbenviertel“ ist ein Stadtteil von Weiden, benannt vom bayerischen Volksmund nach seiner anfälligen Sozialstruktur: Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Frühpensionäre, Kinderreiche, ledige Mütter und Ausländer sowieso. Geradeheraus sagen die oberpfälzischen Kleinstadtbürger: „Keine Vorzugslage“.

Ein wildbemaltes Jugendzentrum, eine ehemalige Kaserne mit Stacheldraht und schweren Eisentoren, eine gepflegte Neubauschule – Orte im Weidener „Glasscherbenviertel“, zu denen Kinder wie Albana, 13, Zana, 13, oder Ismail, 10, „zu Hause“, „Hotel“ oder gar „Paradies“ sagen. Ihre Worte klingen, als haben sie sich aus ihren Mündern befreien müssen.

„Was sie alle verbindet“, sagt der Oldenburger Pädagogikprofessor Rolf Meinhardt über die Situation von Flüchtlingskindern, „sind die traumatisierenden Begleitumstände ihrer Flucht. Alpträume, Angstzustände, Aggressionen, Depressionen sind nur einige Folgen.“ Schätzungsweise 150.000 Flüchtlingskinder leben in der Bundesrepublik, im oberpfälzischen Weiden gut einhundert. 18 im schulpflichtigen Alter sind im vergangenen Monat aus dem Kosovo dazugekommen, untergebracht im Camp Pitman, einer ehemaligen Kaserne im „Glasscherbenviertel“. Albana will sie begrüßen.

Es ist ein launiger Tag in der Oberpfalz. Irgendwo in der Stadt ein Volksfest. Hinterm alten Rathaus ein Maibaum. Im „Glasscherbenviertel“ herrscht Alltag: Hinter den Scheiben kleben Pensionäre, und aus den Fenstern knallt Techno. Im Jugendzentrum, in einem kleinen Zimmer im Untergeschoß, schmieren sich die Jungs und Mädchen Nutella-Stullen, gießen Tee auf und folgen den mahnenden Worten von Ursula Hess, der Chefin: „Also, liebe Kinder, zwei paar Rollerskater sind verschwunden, grün und Größe 40. Wer weiß, wo die sind?“ Später werden sich die 75 Flüchtlingskinder durch Mathe und Deutsch, durch Englisch und Physik wursteln. „Manche von ihnen, die noch im Asylbewerberheim leben“, sagt Ursula Hess, „haben nicht mal einen Tisch, an dem sie die Schulaufgaben machen können.“ Sie kommen daher ins Jugendzentrum, jeden Tag, immer nach Schulschluß. Einige bleiben bis acht Uhr abends, viele nennen es „zu Hause“ wie Albana. Begriffe haben ihre Bedeutung verloren. Begriffe wie „zu Hause“.

Was ist Heimat? „Ich weiß es nicht“, sagt Albana.

Das Mädchen mit der schwarzen Mähne bleibt stehen, schaut, als sei sie gerade mit Hausarrest bestraft worden. Was ist Heimat? Das Kosovo? Von ihrem Dorf weiß sie noch den Namen, Mitrovica, aber nicht mehr genau, wie es sich schreibt. Das Kosovo mußten sie verlassen, weil „die Serben meiner Mutter ein Bein zerschlagen haben und sie nur im Ausland operiert werden konnte“. Im Kosovo hat sie erlebt, „wie serbische Polizisten in die Schule stürmten und eine Freundin prügelten“.

Ist Heimat jetzt Deutschland? Das Deutschland, von dessen Kindern „ich hin und wieder zu hören bekomme: ,Geh doch zurück'“. Das Deutschland, dessen „Beamte versuchen, mit Geldern zu tricksen“. Eine Familie bekommt einen Kleidungsschein über 150 Mark, eine andere, ihre, nur über 100 Mark. Das Deutschland, „das den Flüchtlingen vorschreibt, sich nur innerhalb eines Bundeslandes aufzuhalten“. „Ist das etwa Freiheit?“ fragt Albana. „Ich gehöre nicht hierhin“, wird sie später sagen.

Wir sind auf dem Weg ins Camp Pitman. Vom Jugendzentrum zur Kaserne ist es nicht weit. Auf jeden Fall viel zu kurz, um die Geschichte eines Flüchtlingskindes zu begreifen, wenn Kind denn überhaupt der passende Ausdruck ist. Können Kinder erzählen von Krieg und Bomben wie von Rangeleien auf dem Spielplatz?

„Der Krieg wird zu nichts führen“, sagt Albana. „Ehrlich, die Bomben verschlimmern alles nur noch.“ Sie hat aufgehört, Fernsehen zu schauen. Aber den Bildern kann sie nicht entfliehen. Daheim im Wohnzimmer schauen die Eltern, jeden Abend. Die Mutter weint, jeden Abend. „Da bekomme ich eine Gänshaut.“ Nein, sie will nicht mehr weinen. „Es kann doch nicht die ganze Familie weinen.“

Vor Tagen, da hat Ursula Hess, die Betreuerin der Weidener Flüchtlingskinder, die Familien aus dem Kosovo ins Jugendzentrum eingeladen. Es wurde gesprochen über den Krieg. Es wurde eine hitzige Debatte. Alle waren für den Nato-Einsatz. Alle standen hinter der UÇK. Nur Ursula nicht, die Grüne, und Albana, die bestimmt sagt: „Ich sage nicht Scheiß-Serbe, nur weil jemand ein Serbe ist. Ich sage nicht, alle Serben sind schlecht und alle Kosovo-Albaner sind gut. Ich sage nicht, den Serben geschieht das recht.“ Das meinen Albanas Freundinnen. Sie waren enttäuscht von ihr und auch von Ursula, die Nato-Bomben auf Serbien ablehnte, weil Bomben keine Lösung sind. Enttäuscht von Ursula, die seit 15 Jahren nichts anderes macht, als sich um die Weidener Flüchtlingskinder zu kümmern, ehrenamtlich.

Reden über den Krieg? Im Jugendzentrum kommt das selten vor. Die Kinder sagen: „Wenn wir auch hier noch anfangen würden, über den Krieg zu reden, würden wir einen Anfall bekommen.“ Ursula Hess sagt: „Wir wollen den Kindern Sicherheit geben, wir kümmern uns um ihre Probleme.“ Schule und Ausbildung. Der erste Freund. Die erste Freundin. Zurechtkommen in Deutschland. Schwierig genug. Ständig ist von Rückführung die Rede. Rückführung, nur wohin? Worte, ist von Betreuern zu hören, können wütend machen.

Wir treffen am Camp Pitman ein. Eine Kaserne mit schweren Eisentoren und Stacheldraht umzäunt. Drinnen stehen, hübsch aufgereiht, neue Fahrräder. Die Region hat viel gespendet, heißt es. 110 Kosovo-Albaner sind in Weiden aufgenommen worden. Die meisten sitzen nun in ihren Zimmern und schauen fern. Eine Frau, sagt der Aufnahmestellenleiter, hat übers Fernsehen vom Tod ihres Bruders erfahren. Sie habe geweint, die ganze Nacht, mehrere Tage. Die Stimmung in der Kaserne sei angespannt. Albana klopft bei den Berishas.

Ein kleines Zimmer, sechs Betten, ein Tisch, vier Stühle, eine Couch, der Fernseher, eine Schachtel Pralinen obendrauf. Die Berishas erzählen das, was auch Albana längst weiß. Häuser wurden angezündet, Frauen vergewaltigt, Menschen vertrieben, Tote auf den Straßen liegengelassen und Tiere geschlachtet. Herr Berisha sagt: „Die Vertreibungen sind erst so schlimm geworden, seitdem die Nato bombt.“ Geduldig hört Albana zu.

Auf dem Hof radeln die Kleinsten, vergnügt dreht Ismail seine Runden. Die Größeren sitzen auf Bänken und reden, nicht über den Krieg, der ist drinnen bei ihren Eltern. Zana trägt Kleiderbügel von einem Gebäude zum anderen. „Im Vergleich zum Kosovo“, sagt sie, „ist es hier wie in einem Hotel.“ Sie sagt es in bestem Deutsch. Zana ist wieder in Deutschland angekommen. Eine andere Flüchtlingskindgeschichte.

Freiwillig ging vor drei Jahren Zanas Familie zurück in das Kosovo – vor allem, weil es Milod, ihr Bruder, so wollte. Der hatte sich nie an Deutschland gewöhnen können, nicht an die Reserviertheit der Kinder, die nicht spielen wollten auf der Straße. „Im Kosovo“, sagt Milod, „haben wir immer auf der Straße gespielt. Da haben immer alle zusammengehalten. In Deutschland war das nie so.“ Nun sind Zana und Milod wieder in Deutschland. Wieder in einem Heim. Das zweite Mal. „Schön wäre es, wenn wir in eine Wohnung ziehen könnten“, sagt Zana. Sie setzt sich zu uns.

Und dann erzählt die 13jährige. Von der verhungerten Frau, die sie in Pritina auf der Straße liegen sah. Von den serbischen Soldaten, die vor der Haustür standen, Frauen und Kinder gehen ließen, aber Männer zum Dableiben zwangen. Von der Schule, die geteilt war, der kleinere Teil den 2.000 albanischen Kinder gehörte, der größere den 500 serbischen. Von den Serben, die wie Tiere sind. Von den Nato-Bomben, über die sie froh ist, natürlich.

Albana hört zu. Sie ist gegen Bomben, „weil Menschen leiden“. Sie sagt es nicht. Noch immer radelt der kleine Ismail mit seinem neuen Rad durchs Camp.

Am Vormittag haben sich die Mädchen und Jungs aus Camp Pitman in „Grüß Gott“ geübt, sie sind den Lippen des Lehrers gefolgt und haben artig geträllert „Dankä für diesen guten Morgen“. Sie haben hinter kleinen Wortkarten, auf denen „Schulranzen“ und „Bleistift“ stand, Schulranzen und Bleistift gestellt. Sie haben sich herzlich gefreut, wenn der Lehrer ihnen ein Gesicht ins Heft kritzelte, mit lachendem Mund, „gut gemacht“.

Schule, sagt eine Pädagogin, die seit 25 Jahren Flüchtlingskinder betreut, „ist oft das einzige, was diese Kinder wiedererkennen.“ Da ist ein Lehrer. Da sind Tische. Da gibt es Hefte. Da können sie malen. „Wissen“, sagt die Pädagogin, „ist das einzige, was man ihnen nicht wegnehmen kann.“ Väter und Mütter aber, Häuser und Tiere, eine Heimat.

So warfen sich Ismail und Ard, Adelina und Teuta und die anderen im Raum 7 der Albert-Schweitzer-Schule einen bunten Würfel zu, sprachen die Zahlen darauf nach und lernten später zu sagen: „Das ist eine Zitrone. Die Zitrone ist gelb.“ Der Lehrer lachte, wirbelte mit den Armen, klopfte auf Schultern und drückte den Zeigefinger stets auf die Aufgabe im Heft. „Was die wohl denken, wenn sie so einen Clown vor sich sehen?“ fragt sich Niko Kühnhackl, 40, manchmal.

Kühnhackl ist ein dynamischer Mann, engagiert im Weidener Tennisverein und vom Schulamt mit den neuen Flüchtlingskindern betraut. Von ihnen weiß er nicht viel mehr als Alter und Name. „Ich frage die Kinder nicht, was sie erlebt haben“, sagt er, „ich will keine Wunden aufreißen.“ Immerhin kann er auf albanisch „Guten Morgen“ und „Auf Wiedersehen“ sagen. Er will, sagt er, affektiv arbeiten: Sport und Musik und Malen; Hilfen geben, sich in der Stadt zurechtzufinden. Zurechtzufinden in Deutschland? In Bayern gilt für sie nicht einmal die Schulpflicht. Und Ziel der Übergangsklasse ist es nicht, wie es aus dem Schulamt heißt, hier Deutsch zu lernen.

Umstritten sind unter Pädagogen Nationalitätenklassen, wie es sie in Weiden gibt. Integration sei nicht möglich, sagen die einen und argwöhnen: Integration sei nicht gewollt, weil der Staat sowieso eine schnellstmögliche Rückführung anstrebe. Andere betonen, die Kinder bräuchten ein geschütztes Nest und eine stabile Kontaktperson. Sie fragen: Was nützt es, wenn ein Kind sechs Stunden im Unterricht sitzt und nichts versteht?

Ismail verhedderte sich bei den Farben. Die Zitrone ist blau. Die Gurke ist gelb. Der Junge, der in Pritina noch bis vor wenigen Wochen die 3. Klasse besuchte und die Schule „schön“ fand, lachte vorsichtig. Er wußte nicht, daß er einen Fehler gemacht hat.

„Wissen“, sagt die Pädagogin, „ist das einzige, was man den Flüchtlingskindern nicht wegnehmen kann.“

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