: Einsprachigkeit hemmt die Entwicklung
■ Schulische Einsprachigkeit benachteiligt die türkischen Schüler, sagen Gutachten. Türkische Elternvertreter fordern: Neben Deutsch auch Türkisch als Unterrichtsfach
Türkische Elternvertreter fordern erneut eine Reform des muttersprachlichen Unterrichts an den Schulen. „Die negative Bildungsbilanz“ von Schülern türkischer Herkunft sei eine Folge des einsprachigen deutschen Bildungssystems, so Kazim Aydin, Vorsitzender des Türkischen Elternvereins.
Safter Çinar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg geht noch weiter: „Solange die Schulstrukturen monolingual sind, ist es müßig, an die türkischen Eltern zu appellieren, ihre Kinder dieser Gesellschaft zu öffnen.“
Gestützt ist die harsche Kritik auf zwei neue Gutachten zur Situation türkischer Schüler an deutschen Schulen, die vom Elternverein in Auftrag gegeben und zwischen Juni 1997 und Dezember 1998 durchgeführt wurden. Ihre gestern in Kreuzberg vorgestellten Ergebnisse sind wenig positiv, um so fundamentaler ist ihre Kritik. Türkische Schüler bildeten danach – zusammen mit Schülern italienischer Herkunft – das „Schlußlicht“ der Bildungsskala ausländischer Jugendlicher.
Auch die an den Studien beteiligten Wissenschafter nennen als Hauptgrund fehlende muttersprachliche Angebote. Nicht nur die türkische Sprache werde laut Ursula Boos-Nünning weiterhin als „nicht studierfähig“ und berufstauglich diskriminiert, sondern auch die türkischen Schüler selbst.
„Wenn die Schule deren Erstsprache ignoriert“, so die Essener Professorin, „wirkt sich das nicht nur auf ihre Deutschkenntnisse aus, sondern auf ihre gesamte persönliche Entwicklung.“ Der Grundstein zum beruflichen Scheitern – rund 40 Prozent der ausländischen Jugendlichen finden nach der Schule keine Ausbildungsangebote – werde, so das Ergebnis von Boos-Nünning, in der Schule gelegt.
„Die persönliche Entwicklung wird den Schülern verweigert, wenn man sie zwingt, nur deutsch zu sprechen“, pflichtet ihr Ulrich Steinmüller, Professor an der Technischen Universität Berlin bei: „Und genau hier treten wir seit 20 Jahren bildungspolitisch auf der Stelle.“ Steinmüller argumentiert, daß „eine Förderung der Erstsprache auch die Leistungen in der Zweitsprache Deutsch verbessern wird“.
„Doch alle dahingehenden Modellversuche der 80er Jahre sind gescheitert“, das vorhandene Türkisch-Angebot werde bundesweit noch zurückgeschraubt, so Safter Çinar.
Berlin bezieht neben Bremen und Hessen noch eine Sonderposition: allein in diesen Bundesländern gebe es ein eigenständiges Unterrichtsfach Türkisch. Steinmüllers Forderung: „Wir brauchen Türkisch als reguläres Unterrichtsfach, auch als Fremdsprache für deutsche Schüler.“
Doch auch die Personalsituation verschärft den Mißstand: 29.000 türkische Schüler – erfaßt wurden in den Gutachten lediglich jene mit türkischem Paß – besuchten im Schuljahr 1995/96 Berliner allgemeinbildende Schulen. Dem stünden, so Çinar, lediglich rund 100 türkische Lehrer im Berliner Schuldienst gegenüber. Grund: „Türkische Lehramtskandidaten“, so der einstige Berliner GEW-Vize, „studieren zielsicher in die Arbeitslosigkeit, die Schulbehörde stellt kaum noch neue türkische Lehrer ein.“
Der 1977 beschlossenen europäischen Richtlinie „zur schulischen Betreuung der Kinder von Wanderarbeitern“, die die Verpflichtung zu einem muttersprachlichen Schulangebot beinhaltet, steht das föderale deutsche Bildungssystem entgegen. „Es gibt keine einheitliche Linie“, so Çinar. Vielerorts gäben die Schulen ihren Türkischunterricht in die Obhut konsularischer Vertretungen, „das muß abgeschafft werden“, sagt er.
Von den Gutachten erhoffen sich die türkischen Elternvertreter eine Belebung der Diskussion um die Etablierung von Türkisch-Unterricht an der Schule. Denn Alternativen gebe es nicht. „Wir appellieren zwar derzeit an die Eltern, ihre kleineren Kinder vermehrt in die Kitas zu schicken“, meint Cinar. „Aber die Aufgabe der Kita-Betreuer ist ja nicht, denen eine Fremdsprache beizubringen.“ Christoph Rasch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen