piwik no script img

Wie bei einem Erdbeben

Kaum hatte der russische Vermittler Tschernomyrdin Belgrad verlassen, fielen Bomben. Die Nato traf ein Krankenhaus. Drei Menschen starben.  ■ Aus Belgrad Andrej Ivanji

„Heute sind wir übel dran! Der Himmel ist klar, und Tschernomyrdin ist in Belgrad. Und jedesmal, wenn ein Friedensvermittler Belgrad verläßt, schlägt die Nato besonders wild zu“, sagt Jovan, Stammgast der Kneipe Prolece (Frühling).

So manchem Gast verdirbt er damit die Mahlzeit. Seit zehn Tagen ist Belgrad nicht mehr bombardiert worden. Aber Jovan führt ganz genau Buch. Rund um die Uhr hängt er am Internet und wird in seiner Stammkneipe schon als Militärexperte angesehen. Und er sollte diesmal recht behalten.

Mit Einbruch der Dunkelheit heulen am Mittwoch die Sirenen in Belgrad. Kurz vor 23 Uhr durchbricht das unheilbringende Dröhnen eines Flugzeuges die Stille in der jugoslawischen Hauptstadt. Von der Terrasse eines Hochhauses sieht man überraschenderweise am Himmel eine vorschriftsmäßig beleuchtete Maschine: Der russische Sondergesandte Wiktor Tschernomyrdin befindet sich nach siebenstündigen Gesprächen mit Slobodan Miloevic auf dem Rückflug nach Moskau.

Nach knapp 30 Minuten geht es los. Starke Detonationen erschüttern Belgrad wie kleine Erdbeben. Fensterscheiben klirren. Der Boden zittert. Wie ein Feuerwerk sehen die leuchtenden Kugeln der jugoslawischen Flak in der Finsternis aus. Die Explosionen kommen aus allen Stadtteilen: Batajnica, Rakovica, dem Residenz- und Botschaftsviertel Dedinje. Die Residenz des schwedischen Botschafters wird getroffen. Der seit dem Beginn des Krieges schwerste Luftangriff der Nato auf Belgrad dauert Stunden.

Nach ein Uhr morgens meldet der TV-Sender Studio B, das Krankenhaus Dragise Miovica in Dedinje sei getroffen worden, es gäbe Tote und Verwundete, Rettungsmannschaften seien schon unterwegs. Angehörige der Patienten werden gebeten, zu Hause zu bleiben, weil weitere Angriffe der Nato erwartet würden.

Der Schauplatz wirkt unheimlich. Die neurologische Klinik hat einen Volltreffer abgekriegt und ist teilweise zerstört. Die Entbindungsanstalt und das Kinderspital sind schwer beschädigt. Alle Patienten werden evakuiert, darunter hochschwangere Frauen. Auch einige Neugeborene, die nur wenige Minuten vor dem Einschlag der ferngesteuerten Nato-Raketen auf die Welt kamen. An Ort und Stelle erfährt man, daß vier Patienten getötet und viele durch Glassplitter verletzt seien.

„Dieses Krankenhaus wurde vor fünf Jahrzehnten gebaut, die Nato wird wohl nicht behaupten können, wieder die Ziele verwechselt zu haben“, sagt der Neurologe Marko Ercegovac. „Hier liegen Patienten, die ständiger Pflege bedürfen. Es ist unfaßbar traurig, sich als Arzt mitansehen zu müssen, wie sein Krankenhaus bombardiert wird. Das ist vollkommen absurd. Wie soll man nach solchen Tragödien noch an Menschlichkeit glauben?“ Dr. Ercegovac „möchte noch immer an die westliche Demokratie glauben“, aber er sei zutiefst enttäuscht wegen der schlaffen Proteste der EU-Länder nach solchen „Kollateralschäden“.

Selbst ein Laie konnte am Donnerstag in Belgrad feststellen, daß die Nato Projektile mit einer wesentlich stärkeren explosiven Ladung benutzt als bisher. Unmittelbar vor und nach Tschernomyrdins Besuch in Belgrad attakkierte die Nato in Serbien Ziele in Belgrad, Sombor, Subotica an der Grenze zu Ungarn, Zrenjanin, Novi Sad und Kikinda in der Vojvodina, Vrbas, Obrenovac, Sabac, Cacak, Vranje und im Kosovo in Gnjilane, Prizren und Pec.

Das in der Belgrader Tageszeitung Vecernje Novosti veröffentlichte offizielle Kommuniqué über das siebenstündige Gespräch zwischen dem jugoslawischen Präsidenten Miloevic und dem Vermittler Tschernomyrdin bestätigt die „grundsätzliche“ Bereitschaft Belgrads, die „Prinzipien des Friedensplans der G 8“ zu akzeptieren.

Problematisch für Miloevic ist der Umfang des Rückzugs der Streitkräfte und die Zusammensetzung der UN-Friedenstruppen. Immer noch beharrt Belgrad darauf, daß diejenigen Staaten, die in die „bestialische“ Aggression gegen Jugoslawien involviert seien, sich an der Friedensmission im Kosovo nicht beteiligen dürften. Wie jugoslawische Militärexperten beteuern, sei die Forderung der Nato, daß zuerst Belgrad seine Truppen zurückziehen müßte, um danach die Bombardements einzustellen, vollkommen unlogisch. Denn große Militärkolonnen wären eine leichte Zielscheibe für die Nato, und wenn sich das Heer wiederum auf Schleichwegen aus dem Kosovo zurückzieht, erfordere das viel Zeit und könne von der Nato nicht bestätigt werden.

In der Stadt Krusevac im Süden Serbiens haben Eltern der im Kosovo stationierten Soldaten demonstriert. Sie forderten die sofortige Entlassung ihrer Söhne, die sich zum Teil über ein Jahr in der umkämpften Provinz befinden. Auch dagegen, daß die Mobilmachung in den südlichen Regionen Serbiens wesentlich umfangreicher sei als im Norden des Landes. Unabhängig davon protestierte eine Gruppe von Bürgern in der Stadt Cacak in Zentralserbien gegen den Krieg. Von einer organisierten Protestwelle gegen den Krieg und das Regime kann nicht die Rede sein, doch es sind die ersten Unmutsäußerungen in der serbischen Bevölkerung seit Ausbruch des Krieges vor fast zwei Monaten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen