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Kein Geheimnis. Nirgends.

Von einer, die auszog, im Paradies mit 38 Insulanern zu leben. Anmerkungen zu einem Buch über eine lange Reise nach Pitcairn, der Insel der „Bounty“-Meuterer am anderen Ende der Welt  ■   Von Hans-Christof Wächter

Jemand reist endlich an einen weit entfernten Ort, von dem er lang schon geträumt, um dort auf Zeit zu leben. Der Traum aber erfüllt sich nicht. Der nun unmittelbar gegenwärtige Ort erweist sich ganz anders als erträumt, vor allem als profan und präsent, beraubt seines eigentlichen Geheimnisses: der Ferne, der Fremde.

Unversehens sind die vor weiß schäumender Brandung sich wiegenden Palmen kein paradiesisches Sehnsuchtsbild mehr, sondern eben nur noch viele unordentliche Bäume an einem Meerufer, haben sich die geheimnisvoll lächelnden Insulaner mit ihrem uralten Wissen um den Sinn des Lebens in profane Zeitgenossen von durchaus durchschnittlichem Zuschnitt verwandelt, samt Faible für Dosenbier und „Rambo“-Videos.

Je bewußter der Reisende sich bemüht, den alten Adam abzustreifen, um sich dem/den anderen anzuverwandeln, desto vergeblicher und verzweifelter für ihn selbst, peinlicher oder komischer für den Betrachter gerät das Unterfangen in der Regel. Der Fremde erfährt – irritiert bis verstört –, wie fest ihm die gewachsene Haut seines Herkommens doch ansitzt; sie läßt sich nicht einfach abstreifen wie ein Hemd, um das Neue unbelastet anzunehmen. So er es denn überhaupt versteht. „Nichts ist in der Fremde exotisch als der Fremde selbst“, schreibt Ernst Bloch.

Davon handelt auch, eher ungewollt, das Buch mit dem ansprüchlichen Titel „Schlange im Paradies“. Die Gegensätze könnten größer nicht sein: Die Rolle der Schlange hat sich die Autorin Dea Birkett selbst zugeschrieben, den Part des Paradieses soll – ob sie nun will oder nicht – die Insel Pitcairn übernehmen, ein vulkanischer Felsblock von fünf Quadratkilometern im südöstlichen Pazifik.

Die großstädtisch-westliche Intellektuelle und die statisch enge, weltferne Insulanerdorfgemeinschaft, unvermittelt knallen sie aufeinander und wissen beidseits nicht, wie ihnen geschieht.

In Wahrheit aber ist die Schlange keine Schlange, so wenig wie das Paradies ein Paradies. Daß es das nicht ist, wußte die Autorin – wäre sie ihren Lesern gegenüber ehrlich – bei all ihren Vorausrecherchen, von denen sie berichtet, längst schon, bevor sie auf der Insel ankam. Ihre Verblüffung angesichts der Realität mag man nicht recht glauben. Daß Ms. Birkett im Nichtparadies auch nicht die Rolle der Schlange spielte, sondern allenfalls vorübergehend die des lästigen Moskitos, der unangepaßten Ruhestörerin, offenbart sie in entwaffnender Naivität und Egozentrik ungewollt auf nahezu jeder Seite ihres Textes.

Die Geschichte geht so: London vom Tristesten. Junge Journalistin und aufstrebende Schriftstellerin in Krise flüchtet ins Kino: „Die Meuterei auf der Bounty“, Neuverfilmung mit Mel Gibson als Fletcher Christian und Anthony Hopkins als Captain Bligh. Als nach dem Film ewig der Bus nicht kommt und es Bindfäden regnet, beschließt sie spontan: Ich will hier raus, ich fahre nach Pitcairn, der legendenumwobenen Zufluchtsinsel der Meuterer. Gedacht, aber noch auf lange nicht getan.

Denn dorthin zu gelangen und im voraus überhaupt erst die Genehmigung der Insulaner zum Aufenthalt zu erhalten, macht Pitcairn selbst am Ende des 20. Jahrhunderts noch immer zur schwierigst erreichbaren Destination der Welt. Zwei Jahre knüpft sie Kontakte, antichambriert, korrespondiert, funktelefoniert sie, sucht nach einem Frachtschiff, das Pitcairn passieren und zudem bereit sein würde, sie mitzunehmen. Und schafft es mit viel Geduld schließlich doch.

Reserviert freundlich, aber wie selbstverständlich wird sie von der nur mehr 38 Seelen zählenden Inselgemeinschaft, fast ausschließlich Nachfahren der Meuterer und ihrer tahitischen Frauen, aufgenommen. Sie wird integriert, bekommt ihre Aufgaben im Ablauf der Tage und des Jahres zugeteilt. Man geht fischen, man gärtnert, man kultiviert Dorfklatsch, schlägt Holz auf der Nachbarinsel, feiert Feste, tauscht auf vorbeifahrenden Schiffen Früchte und selbstgebastelte „Bounty“-Modelle gegen Milchpulver und Videogerät, Eiscreme und Mikrowelle, übersteht gemeinsam die Invasion eines amerikanischen Fernsehmissionars und seiner Filmcrew (eine der witzigsten und enthüllendsten Episoden des Buches) und lebt auf der winzigen Insel in der Südsee fernab der Welt ein alles in allem sehr europäisch geprägtes Kleinbürgerleben.

Das vor allem geht der Sucherin nach der extremen Alternative auf den Geist: 20.000 Kilometer und doch nicht von zu Hause weggekommen.

Die Brüche und Unverträglichkeiten offenbaren sich schleichend. Sie reibt sich je länger je mehr am rigiden, aber unformulierten Verhaltenskodex der Gemeinschaft, fühlt sich unter ständiger Beobachtung und leidet an mangelnder Herzlichkeit, Unaufrichtigkeit und schwammiger Unbestimmtheit der Insulaner.

Denen wiederum sind ihre Stimmungsumschwünge, ihr krampfhaftes Insulaner-sein-Wollen einerseits, ihre solistischen Eskapaden andererseits unheimlich. Sie fühlt sich allein, verlassen, ausgesetzt. Sie bemitleidet sich von Herzen.

Als sie sich, auf der Suche nach Nähe und Wärme, in eine trostlose Affäre mit einem (verheirateten) Inselbewohner verstrickt, stellt sie sich definitiv außerhalb der Gemeinschaft. Sie hat das empfindliche Gleichgewicht gestört. Inzwischen, drei, vier Monate Inselleben sind vergangen, ist die Autorin in einer handfesten Neurose gelandet: Sie entwickelt Verfolgungsängste, fühlt sich von den Hinterwäldlern an Leib und Leben bedroht. (Sie haben Gewehre!! Auch fällt immer mal wieder einer vom Kliff, beim Angeln ...) Hals über Kopf verläßt sie Pitcairn mit dem nächsten vorbeifahrenden Schiff.

Die Autorin schildert ihre Befindlichkeit. Immer neu schiebt sie sich und nur sich an die Rampe und verstellt dabei den Blick auf das, was uns doch ungleich mehr interessierte: das spannende Szenario der Bühne Pitcairn.

Natürlich gibt es keine gleichsam entpersonalisierte Objektivität der Berichterstattung. Jede beschriebene Situation ist gefiltert durch den, der sie beschreibt, durch seine Weltsicht, seine Idiosynkrasien, sein Temperament. Sich selbst einzubringen in einen Text, ohne den Gegenstand zu verzerren oder ins zweite Glied zu rücken – die Großen der Reiseliteratur, Bruce Chatwin etwa oder Paul Theroux, verstehen diese delicate balance zu halten. Indem sie sich und ihren Blick auf die Dinge kritisch reflektieren, die Subjektivität ihrer Welt-Erfahrung dem Leser nicht verborgen halten. Sie sagen nicht „so war es“, sondern „so habe ich es erlebt“. Mit Rimbaud fragt Chatwin in fast kindlichem Staunen immer neu „What am I doing here?“ und schützt sich damit vor jeder Selbstüberhebung.

Ms. Birkett fragt sich das auch. Aber sie fragt es, weil ihr Pitcairn nicht ihrem Wunschbild entspricht, weil man sie nicht versteht, sie nicht ernst nimmt, ihr übel will. Sie sieht vor allem sich selbst, schreibt über sich selbst. Wenn sie sich allerdings zurücknimmt, um „nur“ zu registrieren und zu reportieren, was um sie herum vorgeht, erweist sie sich als durchaus einfühlsam genaue, pointiert witzige Beobachterin, als eloquente Berichterstatterin zudem.

Dramaturgisch geschickt eingebaut in ihren Bericht, liest man mit Spannung einmal mehr die Geschichte der berühmtesten Meuterei der Seefahrtgeschichte, der unglaublichen Bootsfahrt des ausgesetzten Captain Bligh und seiner Getreuen durch 6.000 Meilen unbekanntes Meer. Man fühlt sich ein in die abenteuerliche Irrfahrt der Meuterer unter Fletcher Christians Kommando auf der Suche nach einem Versteck. Wird mitgerissen in die bluttriefend düsteren Anfangsjahre auf Pitcairn, als sich Meuterer und tahitische Mitgereiste im Streit um Frauen und Landtitel gegenseitig mörderten. Und schließlich teilt man die rührende Geschichte der zufälligen Entdeckung jener kleinen, inzwischen befriedeten Inselkolonie Jahrzehnte später.

Hier wohl auch ist der eigentliche Grund für die Autorin, Enttäuschung zu suchen. Sie wollte sich einen Mythos zum Leben erwekken, wollte ihn als Realität erfahren. Vergeblich. Zwar hat sie gelebt mit den Ururenkeln, die noch die alten Namen tragen, hat in der Schiffsbibel geblättert, aus der an Bord der „Bounty“ vor über 200 Jahren schon Captain Bligh gelesen, hat von Christian's Cave träumend übers Meer geblickt – aber es waren und blieben eben doch nur einfache Dorfbewohner, ein stockfleckiges altes Buch, ein hübscher Aussichtsplatz auf einem Berg. Kein Geheimnis nirgends, den Genius loci muß sie sich imaginieren, auf Pitcairn nicht anders als in London.

Recht hat letztlich allein Guido Gozzano. Der beginnt eines seiner schönsten Gedichte mit der Verszeile „Ma bella più di tutte l'Isola Non-Trovata.“ Die schönste Insel aber ist die nie entdeckte.

Dea Birkett: „Schlange im Paradies. Meine Reise in die Südsee zu den Nachfahren der Meuterer auf der Bounty“. Aus dem Englischen von Angelika Felenda und Elke Hosfeld. Albrecht Knaus, München 1999. 412 Seiten, gebunden, 39,90 DM

Es waren und blieben nur einfache Dorfbewohner, ein stockfleckiges altes Buch, ein schöner Aussichtsplatz

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