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Noch ein Mal dreimal Weltmeister

„Einigkeit und Recht und Freiheit – Wege der Deutschen 1949 – 1999“ heißt die zentrale Ausstellung zur 50jährigen Geschichte der Bundesrepublik in Berlin. Geklotzt wird mit Boeing-Triebwerken und ganzen Autos, gekleckert wird überhaupt nicht  ■ Von Harald Fricke

1989 bekam Hans-Dietrich Genscher ein anrührendes Geschenk. Eine Gruppe von DDR-Flüchtlingen, die durch Vermittlung des damaligen Außenministers über die Prager Botschaft der Bundesrepublik in den Westen ausreisen durfte, hatte ihm zum Dank eine kleine deutsche Stofffahne genäht. Das Schwarz stammte von einem Sporthemd, das Rot aus einem Kinderschlafsack, und das Gelb lieferte ein in Fetzen gerissenes T-Shirt. Fast 40 Jahre nach Staatsgründung verstand man sich im Osten immer noch gut aufs Improvisieren.

Jetzt ist das bescheidene Stück Zeitgeschichte im Lichthof des Martin-Gropius-Bau hinter Glas dokumentiert. Kümmerlich und etwas verloren hängt es im verwinkelten Zentrum der Ausstellung „Einigkeit und Recht und Freiheit/Wege der Deutschen 1949 – 1999“. Weitläufig sind dagegen Objekte und Videodisplays arrangiert, mit denen die „Baustelle Deutschland“ nach der Wiedervereinigung in Szene gesetzt wird: Schon am Eingang türmen sich Mauerreste auf, zum Teil Originalsegmente. Großformatige Leuchtbilder zeigen, wie in einer Nacht im November die innerdeutsche Grenze fiel. Abgerundet wird die rasante Erfolgsstory durch gewaltige Stahlregale, in denen Maschinen, Boeing-Triebwerke oder ganze Autos untergebracht sind. Neben trist gemalten Industrieruinen Marke Bitterfeld blühen nun computeranimierte Raffinerien auf. Und ein wenig versteckt gibt es in einer Vitrine, eingelassen im Fußboden, verkohlte Fensterrahmen vom ausländerfeindlichen Anschlag in Mölln, bei dem drei türkische Hausbewohnerinnen getötet wurden.

„Das Bild ist widersprüchlich, für ein Resümee ist es zu früh“, heißt es auf einem Begleitblatt. Es klingt wie eine Entschuldigung, daß die Bestandsaufnahme nicht positiver ausfallen konnte. Dabei ist der Rückblick auf 50 Jahre Bundesrepublik alles andere als ein Abgesang. Das Team um Christoph Stölzl wollte zeigen, daß sich zehn Jahre nach Mauerfall beide deutsche Staaten mit einer mittlerweile gemeinsamen Vergangenheit auseinanderzusetzen haben. Der Satz „Vom Ich zum Wir“, 1952 zur Gründung einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in Schwerin auf einen Gedenkstein gemeißelt, er könnte jetzt auch das Motto für den zeitgemäßen Deutschland-Themenpark hergeben – endet der chronologische Abriß zur Politik im Katalog nicht mit dem Foto eines strahlenden Schröder (SPD) als Regierungschef der Neuen Mitte? Und hat man nach 33 Ausstellungssälen nicht das seltsame Gefühl, immer wieder Willy Brandt beim „Mehr Demokratie“-Wagen begegnet zu sein, aber selten nur Helmut Kohl?

Tatsächlich fügt sich der Parcours mit 6.000 Exponaten auf zwei Stockwerken zu einem befremdlich friedvollen Nebeneinander von Ost und West, Bonn und Berlin bis hin zu Urlaubssouvenirs aus Taormina oder Hiddensee zusammen. Von Amerikanisierung und Rock 'n' Roll ist es nur ein Katzensprung zu APO, Anti-Atom-Bewegung und den Attentaten der RAF. Im Erdgeschoß beginnt der Weg durch die deutsche Geschichte am zerbombten Reichstag, führt mit der ersten demokratischen Verfassung unter Adenauer über die Debatten zu Wiederbewaffnung und Nato-Beitritt im Westen an den Militäraufmärschen im Osten vorbei – und endet in einem Garten aus grünem Teppichboden und sorgsam mit Holzkästen ummantelten Bäumen gegen das Waldsterben.

Soviel Versöhnung war nie, auch wenn der Atomausstieg unter Rot-Grün längst vom Tisch ist. Statt dessen kann man in der „Provisorium“ betitelten Chill-Out-Zone für soziale Bewegungen in der Nullnummer der taz blättern, so wie zwei Räume zuvor schon der musealisierte Ringelpulli von Rudi Dutschke und Joschka Fischers alte Turnschuhe – eine Leihgabe des Deutschen Leder- und Schuhmuseums Offenbach! – in Vitrinen auslagen.

Ganz oben, unter der Kuppel, flimmern dagegen auf zerklüfteten Projektionswänden Dias von Shopping-Malls, Multiplexkinos oder dem Brandenburger Tor. Im Sekundentakt mischen sich nationale Symbole mit Zeichen des Wohlstands, als müsse man bebildern, was der Kanzler ins Grußwort schrieb: „Wir können stolz sein nicht nur auf unsere Wirtschaftskraft und unsere erprobte Demokratie, sondern auch auf unsere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.“ Tatsächlich leidet die enorm detailreiche, stets bis zur Deckenhöhe gestapelte Ausstellung unter der eigenen Umsicht. Vielleicht wollte man es sich mit keiner Gruppierung verscherzen: Von der Frauen- und Schwulenbewegung bis zum Asylbewerber haben alle ihre, wenn auch bloß minimale Nische – nur Christoph Schlingensiefs Chance 2000 fehlt. Andererseits war das Land Berlin der Veranstaltung nicht eben mit Sympathie begegnet. Nachdem das Projekt für 16 Millionen Mark binnen zwei Jahren realisiert wurde, um das Jubiläum überhaupt in der Hauptstadt feiern zu können, mußte das Team zusätzliche 750.000 Mark Miete für die eher notdürftig renovierten Räume hinblättern.

Dabei dürfte Geld gar keine Rolle gespielt haben. Das Unternehmen ist eine Materialschlacht in Sachen Demokratie, in der die Masse der Exponate vor allem davon Zeugnis ablegt, mit welcher Akribie in den letzten Jahrzehnten vom Deutschen Historischen Museum Berlin, dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundeskunsthalle in Bonn Belegstücke der Vergangenheit gesammelt wurden. Nichts soll verlorengehen, auch auf die Gefahr hin, daß einem die eigenen Erinnerungen angesichts der ausgestellten Fülle wie Marginalien vorkommen. Zweifellos ist es Aufgabe dieser Retrospektive, das Spektrum von der hohen Politik bis zu den Rändern des Alltags abzudecken. Vor lauter Komplettierungswut wurde allerdings der Freiraum für die Vorstellungen des Publikums vergessen, das nun bedingungslos abnickt, was sich vor seinen Augen als Massiv der Geschichte erhebt. Selbst der Fußball entkommt dem Allover der Archive nicht: Auf einem Video wird Deutschland noch einmal drei Mal Weltmeister.

An den zahllosen Bildschirmen, Tonbeispielen und Fotowänden zeigt sich umgekehrt, daß allein Medien noch in der Lage sind, Geschichte adäquat und massenwirksam zu speichern. Keine Partei-Devotionalie und kein Privatkitsch kann es mit der Überzeugungskraft jener 50 Fernsehmonitore aufnehmen, die im ersten Stock 50 Jahre Weltgeschehen im Schnelldurchlauf passieren. Nachrichten in Pillenform. Eben noch blitzte links der Vietnamkrieg auf, sechs Schritte weiter gibt es den toten Elvis und „Saturday Night Fever“. Die Beschäftigung mit dem Aufstieg von Presse, Rundfunk und Fernsehen in der Bundesrepublik ist dagegen schmal ausgefallen. Dabei löst doch die Austellung selbst mit ihrer Info-Inszenierung ein, was schon Rudolf Augstein über die Funktion der Presse gesagt hat: Er sah seinen Spiegel als „Sturmgeschütz der Demokratie“.

Den schönsten Sieg in der Schlacht um die Realitäten in 50 Jahren Bundesrepublik trägt dennoch ein Blatt Papier von einem gewissen Bernd Feuerhelm davon. Er wurde vom Gericht in Tiergarten für ein „Strafverfahren wegen Tanzbewegungen auf der Fahrbahnmitte in Kreuzberg 11. 2. 1963“ vorgeladen. Feuerhelm hatte mit einem Freund auf der Oranienstraße „Twist“ und „Monkey“ geübt. Damals blieb es bei einer Verwarnung. Heute ziehen Love Parade und Karneval der Kulturen durch die Stadt – als Sambatruppen der Demokratie.

Bis 3. 10. im Martin-Gropius-Bau; Katalog 144 Seiten, 10 DM

Von Amerikanisierung und Rock 'n' Roll ist es nur ein Katzensprung zur APO und den Attentaten der RAF

Vor lauter Komplettierungswut wurde der Freiraum für die Vorstellungen des Publikums allerdings vergessen

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