: Sitzplatz im Kopf des Poeten
■ Die Kulturetage Oldenburg serviert mit „Zinkonie für eine Leiche“ in einem alten Lokschuppen eine halb respektlose, halb verklügelte Daniel-Charms-Revue
In einer alten Oldenburger Lokhalle enden die Oberleitungen. Kein Lichtstrahl fällt in den Backsteinbau. Am Boden verstreute Zinkeimer. Gerümpel wie die Worte, die durch den Raum gewälzt werden. Was ist ein Poet? Und wie kommen Worte in die Welt? Diese und ähnliche Fragen stellen und entstellen Tina Harms, Franziska Vondrlik und Jegor Wyssozkij in diesem Lokschuppen äußerst lustvoll.
Mit der neuesten Produktion der Oldenburger Kulturetage „Zinkonie für eine Leiche“ schöpft Jegor Wyssozskij aus dem literarischen Nachlaß des russischen Künstlers Daniil Charms, der in den zwanziger Jahren zur literarischen Avantgarde zählte und 1942 im Gefängnis verhungerte. Wyssozkij montierte dessen skurrile Textfragmente zu einer expressionistisch-dadaistischen Revue. Der dunkle Raum selbst wird so zum Kopf des Poeten, in dem wir alle Platz nehmen und in dem sich Worte tummeln, um gleich wieder zerlegt zu werden. Wyssozkij betritt die Bühne in seiner Rolle als Autor und Regisseur, als der Poet also, dessen Gedanken die Welt erschaffen sollen. Diese Gedanken sind personifiziert durch zwei freche Gören (Harms und Vondrlik), die zunehmend die Regie über Sprache und Denken übernehmen. Mit kindlicher Spielfreude demontieren sie jeden Gedanken und setzen ihn in schadenfrohe Aktionen um. Schließlich sind reales Geschehen und Kopfgeburten kaum noch zu unterscheiden. Ein Mord, gerade gedacht, wird plötzlich Realität, und eine stinkende Leiche im Keller spitzt das Geschehen dramatisch zu.
Ein Stück im Stück beginnt. Doch bis hierhin – das heißt bis zum zweiten Akt – weiß man gar nicht so recht, wohin man den Dreien eigentlich folgen soll. Mal tappen sie von philosophischem und rabenschwarzem Tiefsinn hinüber in langatmigen Klamauk. Dann wieder blitzt viel Selbstironie des Autors/Regisseurs auf. Doch bei ihm scheint auch das Problem zu liegen: In etwa zwei Stunden Länge arbeitet sich Wissozkij an Identität und Geniekult des „Poeten“ ab und versäumt es dabei, aus Distanz zu pointieren. Streckenweise wird aus diesem Charms-Experiment L'art pour l'art. Doch dann sind Tina Harms und Franziska Vondrlik unbändig komisch und voll selbstironischer Respektlosigkeit. Und mit dieser Energie sprengen die drei schließlich den Raum und stoßen das große Tor auf, um auf die Gleise unterm Oldenburger Nachthimmel hinauszuhüpfen.
Marijke Gerwin
Aufführungen sind geplant. Termine stehen aber noch nicht fest.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen