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Glücklich ist, wer vergißt

Vor hundert Jahren starb der „Walzerkönig“ Johann Strauß: ein früher Popstar und ein Genie des Kommerzes, dessen Name noch heute die Kassen klingeln läßt. Seine populären Melodien halfen dem Publikum, die unangenehmen Seiten des Lebens zu verdrängen – und waren doch mehr als nur Wiener Schmäh. Schrille Inszenierungen haben seine Operetten in den letzten Jahren vom Kitsch befreit und in intellektuellen Kreisen wieder salonfähig gemacht  ■ Von Ralph Bollmann

Noch heute bricht der Mann alle Rekorde. Das Neujahrskonzert, alljährliches Hochamt Wiener Walzerseligkeit, erreicht rund eine Milliarde Menschen. Der Gassenhauer unter seinen Operetten, die „Fledermaus“, wird seit mehr als hundert Jahren auf den Bühnen zwischen Trier und Tokio so oft gespielt wie kein anderes Stück.

Keine Frage, am Namen Johann Strauß läßt sich trefflich verdienen. Sein hundertster Todestag, so glauben die österreichischen Tourismusstrategen, verheiße „eine erhebliche Belebung besonders für die Wien-Destination“. Bereits 1998 haben man „das Sisi-Jahr mit großem Erfolg beworben“; es löse also „eine Celebrity die andere ab“. Anders als Mozart, der sich beim Gedanken an den schmalzigen Wunderkind-Kult der Nachgeborenen vermutlich im Armengrab herumdrehen würde, hätte Strauß gegen die Vermarktung seines Namens gewiß nichts einzuwenden. Schon zu Lebzeiten war der König des Walzers vor allem ein Genie des Kommerzes. Für seine Tournee in die Vereinigten Staaten kassierte er 1872 eine Traumgage von 100.000 Dollar. Mit einem 800 Mann starken Orchester spielte er im eigens errichteten Bostoner „Coliseum“, das 100.000 Zuhörer faßte. Auch über seine Gastspiele im Zarenreich schwärmte er: „Man lebt nur im Rußland. Hier ist Geld, und wo dasselbe vorhanden ist, existiert Leben!“

Der Komponist und Dirigent war ein „Pop-Idol des 19. Jahrhunderts“, so formuliert es der Journalist Anton Mayer in seiner Strauß-Biographie. Um den unerhörten Erfolg des „Donauwalzers“ in Worte zu fassen, brauchten schon die Zeitgenossen ein neues Wort: Schlager. Hitparaden oder goldene Schallplatten gab es seinerzeit noch nicht, aber der Erfolg ließ sich auch an der Auflage der Notendrucke und der Höhe der Gagen und Honorare mühelos messen.

Die Weichen waren früh gestellt. Im Alter von 19 Jahren trat Strauß zum ersten Mal mit seinem eigenen Orchester auf, um in den Ballsälen Wiens die Konkurrenz mit dem verhaßten Vater aufzunehmen. Das Ereignis war höchst professionell vorbereitet, ein üppiges Trinkgeld für den anwesenden Rezensenten verschaffte dem Debütanten die erwünschte Aufnahme in der Öffentlichkeit. Geschickt sprach Strauß ein Publikum an, das sein Vater auch politisch links liegenließ. In der Revolution von 1848 euphorisierte er die aufsässigen Wiener mit „Barrikadenliedern“ und einem „Revolutionswalzer“, während die väterliche Kapelle den Sieg der Reaktion mit dem „Radetzkymarsch“ feierte. Solche Jugendsünden hinderten Strauß nicht, nach dem Tod des Vaters 1849 nicht nur dessen Kapelle zu übernehmen, sondern auch dessen Amt des Hofballmusikdirektors anzustreben.

Doch der Ehrenposten, den Strauß nach anderthalb Jahrzehnten des Antichambrierens endlich bekam, interessierte ihn nur so lange, wie er ihn für seinem kommerziellen Erfolg beim Publikum brauchte. Acht Jahre später gab er das Amt wieder auf, es hatte seinen Zweck erfüllt. Die Zeit, die Strauß mit unbezahlten Auftritten am Kaiserhof verbracht hatte, ließ sich für die Produktion lukrativer Operetten gewinnbringender nutzen.

Ein früher Held der Popkultur war Strauß vor allem deshalb, weil der Konzertbetrieb ganz und gar mediengerecht auf den Kult um seine Person zugeschnitten war. Schon früh übte Strauß vor dem heimischen Spiegel die Posen, die bei den späteren Mammutkonzerten vor allem das weibliche Publikum dahinschmelzen ließen. Wenn sich die Karikaturisten der Satireblätter über die ausgreifenden Gesten des Stehgeigers vor seinem Orchster lustig machten: um so besser. Hauptsache, sie trugen den Namen Johann Strauß rund um den Globus.

Seine Barttracht wählte der Maestro mit Bedacht. Er begann seine Karriere mit Schnurrbart und „Fliege“ an der Unterlippe. Dann ließ er sich einen Vollbart wachsen, den er auf dem Höhepunkt seines Erfolgs mittels Kinnrasur zu einem Franz-Josephs-Bart umdrapierte. Erst im Alter kehrte er zum Oberlippenbart zurück.

Hinter dem eingeführten Markennamen Strauß stand zeitlebens ein ganzer Apparat, der ihm zuarbeitete und zugleich an seinem Bekanntheitsgrad verdiente. Schon früh spannte er seine beiden Brüder in eine nicht immer konfliktfreie Zusammenarbeit für Kapellmeisterdienste ein. Je mehr sich Johann zum Komponieren zurückzog, desto häufiger mußten sie bei den Konzerten einspringen.

Diskrete Hilfsdienste von Mitgliedern der Kapelle waren auch bei der Walzerfabrikation nötig. Schließlich blieben Strauß' kompositorische Kenntnisse anfangs stark hinter seinen Fähigkeiten als Selbstdarsteller zurück. In den frühen Werken stammten allenfalls die Melodien von ihm, nicht der Orchestersatz. „In der Firma Strauß“, so der Musikwissenschaftler Norbert Linke, „war man sich durchaus klar darüber, daß man Berufsgeheimnisse zu verschweigen habe.“

Erst mit rund vierzig Jahren hatte es Strauß im Walzerhandwerk zur Meisterschaft gebracht und seinen größten Hit gelandet: „An der schönen blauen Donau“. Doch seine erste Frau und Managerin Jetty Treffz drängte ihn, seinen Namen auch in der Operettenbranche gewinnbringend zu nutzen. Es störte sie überhaupt nicht, daß ihr Mann im Bühnenfach gänzlich ahnungslos war, daß er sich – unbelesen, wie er war – für die Textbücher allenfalls oberflächlich interessierte. Der Intendant des Theaters an der Wien stellte dem Operettenneuling den erfahrenen Bühnenkomponisten Richard Genée zur Seite.

Gegen die Selbstzweifel und Versagensängste des Meisters konnten die beflissenen Helfer nichts ausrichten. Die Fassade des Orchesterdompteurs verbarg einen gehemmten und von Panikattacken heimgesuchten Mann. In der Eisenbahn setzte er sich auf den Fußboden, um nicht durchs Fenster auf tiefe Abhänge starren zu müssen. Sexuell verschaffte er sich in Briefen an seine Schwägerin Luft: „Vögelt dich dein Mann fleißig? Mir hängt etwas heraus, aber nur die Zunge vor lauter Vögeln. Es steht nichts über das Pudern, wenn man's kann.“

Die Biographen streiten, ob diese Äußerung des kinderlosen Strauß auf fehlende Manneskraft schließen läßt. Der Biograph Franz Endler geht über die Frage mit der gnädigen Formulierung hinweg, der dreimal verheiratete Walzerkönig, der erst mit 37 Jahren bei seiner Mutter auszog, sei „aus Liebe zur Musik kinderlos“ geblieben. Überhaupt habe er sich derart ausschließlich für Musik interessiert, daß er „als Mensch im landläufigen Sinne keine interessante Persönlichkeit war“.

„Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist“: Fast scheint es, als habe sich der Verdrängungskünstler die berühmte Textzeile aus seiner „Fledermaus“ zum Lebensmotto erkoren. Den Gedanken an die Vergänglichkeit suchte Strauß von sich fernzuhalten. Auf Beerdigungen selbst engster Angehöriger erschien er unter Angabe verschiedenster Ausflüchte nie. Sein Äußeres wurde mit dem Alter immer jugendlicher. Das Haar färbte er schwarz und ondulierte es bis zuletzt mit der Brennschere. Die Falten im Gesicht fielen auf den späten Fotos, auf denen Strauß vorzugsweise in karierter Hose posierte, der gnädigen Retusche zum Opfer.

Auch seinem Publikum war Strauß beim Verdrängen behilflich. Sein erfolgreichstes Stück Tanzmusik, der „Donauwalzer“, erlebte seine Uraufführung kurz nach der Niederlage Österreichs im Krieg gegen die Preußen. Seine populärste Operette, die „Fledermaus“, kam kurz nach dem Wiener Börsenkrach von 1873 heraus. Mit den Operetten eines Jacques Offenbach, dessen Erfolg Strauß zuerst nacheiferte und ihn dann übertraf, habe „eine materialistisch und ökonomisch orientierte Gesellschaft ihre innere Unrast und Öde“ überspielt, urteilt ein populäres Musiklexikon noch heute.

Doch allmählich wächst das Bewußtsein dafür, daß sich die Doppelbödigkeit dieser Gesellschaft auch in der Musik wiederfindet. Das Beispiel Strauß zeigt einmal mehr, daß populäre Musik nicht zwangsläufig schlechte Musik sein muß. Die tiefe Melancholie, die der Maler Franz von Lenbach auf einem Altersporträt des 70jährigen Strauß festhielt, lauert auch in den rund 500 Werken zwischen all dem monströsen Schmäh, der sich im Konzertbetrieb lange in den Vordergrund schob.

Ausgerechnet Nikolaus Harnoncourt, der sich zuvor durch werkgetreue Aufführungen alter Meister ein eher sprödes Image erarbeitete, hat in den vergangenen zehn Jahren den Walzerkönig selbst in intellektuellen Kreisen wieder salonfähig gemacht. Er schaute bei Strauß genau in die Noten – und erkannte in „all dem Lachen, das diese Musik erzeugen kann, einen großen Zynismus und eine große Traurigkeit“.

Die kritischen Geister der Regiezunft haben die Operette ebenfalls wiederentdeckt. Einst hatten sie das ganze Genre als albernes Amusement für Damen mit Dauerwelle verspottet. Doch längst hat eine neue Generation von Theatermachern die starren Grenzen zwischen Kunst und Kitsch eingerissen. Seit der Bühnen-Revoluzzer Herbert Wernicke die „Fledermaus“ 1992 in Basel „mit System mißhandelte“ (Spiegel), gilt die Strauß-Klamotte auf seriösen Bühnen nicht länger als anstößig. Kultregisseur Frank Castorf von der Berliner Volksbühne, des traditionellen Spießertums gewiß unverdächtig, brachte das Stück vor anderthalb Jahren auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses. Und fürs Jubeljahr haben die Wiener Festwochen Hamburgs Thalia-Chef Jürgen Flimm eingekauft, der den rauschenden Ball des Prinzen Orlowsky in eine schmierige Provinzdisco verlegte.

Doch die Dekonstruktion mißlang. Zwar verließen anfangs ein paar Abonnenten türenknallend die Säle, doch längst hat die interpretatorische Frischzellenkur der Walzerseligkeit neuen Auftrieb verschafft. Harnoncourt mutierte erst durch seine Ausflüge ins Unterhaltungsfach zum gefeierten Star, dessen Konzerte als Mega-Events des Jubiläumsjahrs vermarktet werden. Die Bändigung mißlang. Strauß, das Pop-Idol, war stärker.

Ralph Bollmann, 29, ist taz-Redakteur in Berlin.

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