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Vor Gericht wird Öcalan zum Chamäleon

■ Mal gibt sich der PKK-Chef als reuiger Sünder, mal als Politiker

Istanbul (taz) – Im Gerichtssaal herrscht tiefe Betroffenheit. Gerade hat eine junge Frau, deren Mann bei einem Angriff der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) getötet wurde, in bewegenden Worten über ihren Verlust berichtet. Anschließend wendet sie sich Abdullah Öcalan direkt zu. Weinend hält sie das Bild ihres toten Mannes gegen den Glaskasten, in dem der PKK-Chef sitzt. Der erhebt sich langsam, knöpft sein Jacket zu, verbeugt sich etwas und sagt: „Ich teile Ihren Schmerz.“

Die Szene aus dem Gerichtssaal auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali ist nicht der einzige Moment, in dem Öcalan während der ersten Prozeßwoche den reuigen Führer der Aufständischen gibt. Bereits am ersten Tag hatte er sich in einer persönlichen Erklärung bei den Angehörigen der gefallenen Soldaten entschuldigt, und selbst in seiner schriftlichen, vorbereiteten Verteidigungsrede redet er von schweren Vergehen seiner Partei. Doch der erste Eindruck, hier stehe ein gebrochener, in den Händen seiner Feinde gefügig gemachter Mann, der nur noch um sein Leben fürchtet, stimmt lediglich zum Teil. Öcalans Anliegen gehen darüber hinaus.

Er gibt sich zwar geläutert, aber durchaus nicht als Krimineller, sondern als Politiker, der nun über Einsichten verfügt, die ihm 15 Jahre zuvor, als die PKK den bewaffneten Kampf begann, nicht zur Verfügung standen. Öcalans Schlüsselwort ist der „demokratische Weg“ zum Frieden. Immer wieder setzt er an, seine Vorstellungen einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage zu erläutern. Eine der größten Überraschungen des Prozesses ist, daß das Gericht ihm dazu auch Gelegenheit gibt. Tatsächlich blockt Turgut Okyay, der Vorsitzende Richter des 2. Staatsgerichtshofs aus Ankara, der den Prozeß souverän führt, Öcalan nicht ab. Im Gegenteil, häufig fragt er noch einmal nach. Selbst als einer der Verteidiger Öcalans am Freitag die Erklärung des sogenannten PKK-Präsidiums vortrug und die Anwälte der Nebenkläger daraufhin einen Tumult veranstalteten, blieb Richter Okyay bei seiner Linie. Er verwies einen Anwalt der Nebenkläger des Saales. Daraufhin gingen auch die „Soldatenmütter“ mit ihren Anwälten.

Als die Anwälte Öcalans jedoch versuchten, den Gerichtssaal tatsächlich in eine Plattform zur Debatte der Kurdenfrage umzuwandeln, wollte oder konnte auch Okyay das nicht zulassen. Öcalan hatte in einer aufsehenerregenden Stellungnahme diverse Namen von Leuten genannt, die angeblich von unterschiedlichen türkischen Ministerpräsidenten als Vermittler zu ihm geschickt worden waren. Angefangen von Turgut Özal 1992 über Necmettin Erbakan bis hin zu Mesut Yilmaz hätten diverse Regierungen versucht, Chancen einer politischen Lösung auszuloten.

„Seit 1993“, so Öcalan, „habe ich versucht, eine friedliche Lösung durchzusetzen. Sowohl innerhalb der PKK als auch mit Angeboten an die türkischen Regierungen.“ Bereits der erste von der PKK erklärte Waffenstillstand im Juni 1993 sei eine Reaktion auf ein geheimes Angebot gewesen.

Als Öcalans Verteidiger daraufhin beantragten, alle in Frage kommenden Politiker, bekannte Journalisten und andere Personen, die an den Vermittlungen beteiligt gewesen sein sollen, als Zeugen vorzuladen, lehnte Okyay ab.

Bislang hatten die Anwälte Öcalans den unglücklichsten Part in dem Prozeß. Während sie in der Öffentlichkeit nach wie vor Schmähungen und Drohungen ausgesetzt sind und deshalb auch einen Tag dem Prozeß ganz fernblieben, scheint ihr Mandant wenig auf ihre Vorschläge zu hören. Statt auf Konfrontation setzte Abdullah Öcalan auf Republikgründer Mustafa Kemal (Atatürk). Ausgerechnet bei ihm, so der PKK-Chef, könne man den Weg zum Frieden finden. „Jetzt ist er auch noch Kemalist geworden“, stöhnte die liberale Zeitung Radikal anderntags über die vielen Gesichter Abdullah Öcalans. Jürgen Gottschlich

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