piwik no script img

Kaschmirs Kampfgebiet entvölkert sich

■ In der Region Kargil sind 20.000 Menschen und damit fast die Hälfte der Bevölkerung vor den heftigen Kämpfen auf der Flucht

Delhi (taz) – Die schweren Kämpfe und Artillerieduelle im Norden des indischen Kaschmir haben eine Flüchtlingswelle ausgelöst, die nach Angaben einzelner Berichte beinahe die Hälfte der lokalen Bevölkerung erfaßt hat. Rund einhunderttausend Menschen leben in den Hochtälern des Bezirks Kargil. Die meisten von ihnen sind Hirten.

Zwischen den Kaschmiris aus dem Srinagar-Tal und den Buddhisten aus dem östlichen Ladakh gaben die Kargilis mit ihren Schaf- und Ziegenherden bisher nur den malerischen Hintergrund für die paar Touristen ab, die die 435 Kilometer von Srinagar nach Leh entlang der Nationalstraße 1 fuhren. Im Sommer sind die Kargilis mit ihren Herden auf über 5.000 Meter Höhe unterwegs, den Winter verbringen sie in den Dörfern der Talsohlen.

Doch seitdem ein Hirte vor einem Monat Gruppen von fremden, bewaffneten Männern erspäht und die Nachricht einem Soldaten der indischen Armee weitergegeben hat, sind aus den Halbnomaden Zwangsnomaden geworden. Der 50jährige Kaschmirkrieg erreichte den Ort Kargil mit seinen 12.000 Einwohnern.

Plötzlich hallten Flugzeuglärm und Kanonenschüsse durch die menschenleeren Gebirgszüge. Die dünnbesiedelten Täler verwandelten sich in ein Heerlager. Kaum hatte die indische Luftwaffe und Artillerie begonnen, die Stellungen der Eindringlinge aus Pakistan ins Fadenkreuz zu nehmen, setzte auch der Beschuß durch pakistanische Kanonen von jenseits der Waffenstillstandslinie ein.

Die Dörfer wurden zu den ersten Zielscheiben. Denn wegen des harschen Klimas – die Temperaturen sinken im Winter auf bis zu minus 60 Grad – hatten sich die kleinen indischen Garnisonen meist nahe dem relativen Komfort der Behausungen eingerichtet, die sich plötzlich zu militärischen Objekten aufgewertet sahen.

Einige hundert Dorfbewohner konnten sich bis nach Leh absetzen, während die Straße nach Srinagar für die Flüchtlinge zunächst gesperrt wurde. Die meisten Kargilis haben aber ohnehin kaum Verbindungen zur Außenwelt, da sie ihre engere Heimat nie verlassen haben. Sie nahmen daher zunächst Zuflucht im kleinen Distrikthauptort Kargil.

Dort haben viele Einwohner seit den ersten Artilleriebeschüssen aus dem zwölf Kilometer entfernten Pakistan im Jahr 1997 unter ihren Häusern Schutzräume eingerichtet. Doch als auch diese wegen des heftigen Beschusses von jenseits der Waffenstillstandslinie nicht mehr sicher waren, zog ein Trek von zu 20.000 Menschen in südlicher Richtung ins Suru-Tal, dem Zugang zur Zanskar-Region. In Kargil sind inzwischen zahlreiche Gebäude zerstört oder beschädigt, darunter selbst die kleine Moschee. Der Ort ist inzwischen zur Geisterstadt geworden, die Straßen sind voll Bombenkrater.

Eine Reihe von Flüchtlingen soll sich in der Nähe der Armeelager niedergelassen haben. Diese sind zwar auch gefährdet, doch die Menschen erhalten dort Armeerationen, wenn sie beim Ausheben von Schützengräben und Kanonenstellungen helfen. Militärärzte öffneten ihre Lazarette auch den Einheimischen, um zu verhindern, daß bei den primitiven Bedingungen der Lager Krankheiten ausbrechen. Das einzige Krankenhaus der Region in Kargil hat nur noch eine Rumpfmannschaft von drei Ärzten.

Die Regierung von Kaschmir hat begonnen, Nahrungsmittel und Zelte von Srinagar heranzuschaffen. Besonders in der Region von Drass, wo starke Winde die Nachttemperaturen auf minus 16 Grad sinken lassen, sind viele der Obdachlosen auf Zelte angewiesen. Deren Transport geht allerdings nur mühsam voran, da die einzige Straße nach Kargil beinahe gänzlich von Militärkonvois verstopft ist. Bernard Imhasly

Bei Temperaturen von minus 16 Grad sind die Flüchtlinge auf Zelte angewiesen, die erst herangeschafft werden müssen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen