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Wahrheit im Niemandsland

Politisch: Das Urteil am Thalia Theater  ■ Von Gisela Sonnenburg

Die jüngsten, in den USA und der Schweiz angelaufenen Entschädigungsforderungen von Nazi-Geschädigten schlugen hohe Wellen. Zumindest aber steht jetzt fest, daß Aussagen und Ansprüchen von Opfern des Dritten Reichs endlich mehr Gewicht zugesprochen wird. Ein Theaterstück, das die Stichworte Jude-Zeuge-Prozeß aufgreift, sollte daher automatisch im Blickpunkt des Geschehens stehen – und politisch Position beziehen: Zu seiner Auswahl des Stücks Das Urteil von Paul Hengge ist das Thalia Theater nur zu beglückwünschen.

Am 16. Juni ist Premiere – die letzte große dieser Spielzeit – und es ist sogar eine theatrale Uraufführung. Bisher gab es das Urteil nur als Film zu sehen, der 1998 den angesehenen Grimme-Preis Spezial erhielt. Für herausragende künstlerische Leistungen. Ob uns solche auch am Mittwoch im Thalia erwarten? Das Stück hätte es verdient. Hengge, Jahrgang 1930, läßt darin einen in einem Mordprozeß als Belastungszeugen geladenen jüdischen KZ-Überlebenden im Niemandsland eines Flughafenwartesaals in Bedrängnis geraten. Auf dem Wege zum Prozeß wird ihm hinterhältig der Weiterflug abspenstig gemacht; durch ein scheinbar zufälliges Gespräch mit einem angeblich Unbeteiligten bricht seine existenzielle Krise aus. Selbstzweifel, die große Frage nach Verstrickung in Schuld sowie nach der eigenen moralischen Integrität, vor allem aber die Unsicherheit angesichts unerklärlicher Zufälle bahnen sich an. Bis sich ein Spiel von Jäger und Gejagtem entwickelt, das in einer Kette von Wendepunkten kulminiert.

Ein wahrer Psychothriller, wiewohl es sich um ein Kammerspiel handelt. Ort und Zeit sind einheitlich der Wartesaal von heute, Dialoge und Aktionen begründen sich in den beiden Hauptpersonen: ein spannendes Duell, besetzt mit Michael Altmann und Christoph Bantzer. Von ihnen und vom Regisseur Michael Wallner hängt ab, ob die – vermeintliche? – Wahrheitsfindung in der Lounge, wo die Zeit wie eingefroren erscheint, erfolgreich sein wird. Wallner, ursprünglich Schauspieler, von Boy Gobert geprägt und seit 1988 auch Regisseur, liefert mit dem Urteil sein Debüt am Thalia ab.

Ihn interessieren vor allem „die Mißverständnisse und Irrtümer“, die das Stück entwirft: „Das große alte deutsche Thema wird auf antagonistische Weise behandelt“, sagt er. Und: „Es entwickelt sich eine Faust-Mephisto-Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren.“ Außerdem gibt es eine Eventkomponente: „Der Abend beginnt ohne Vorhang, und die Zuschauer sitzen selbst zunächst wie im Wartesaal.“ Das verspricht echtes Flughafen-Feeling. Ohne Pause und in über eineinhalb Stunden soll das Publikum dann langsam, aber sicher in den Strudel der verzwickten Situation getrieben werden.

Die Gesellschaftskritik des Dramas wirft darüber hinaus Fragen auf, die bleiben. So die nach vermeintlicher oder tatsächlicher Mitschuld von Zeugen. Auch die Frage nach der Unvollkommenheit der Justiz, letztlich sogar die Frage nach dem grausigen Weiterwirken der Nazis, ihrer immer noch anhaltenden Langzeitwirkung. Paradox bleibt dennoch alles im Stück – weshalb die Welt noch lange nicht in Ordnung ist. Bedenkt man, daß sich hier erstmals seit Faßbinder ein Autor an eine nicht eindimensionale Darstellung eines Juden auf der Bühne traut, dürfte die Premiere pikant werden.

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