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Der Tanz der Paradoxien

Was steckt hinter dem Dahinterstecken? Oder: Die bedeutende Kunst, an einen bedeutenden Mann zu erinnern. Ein Sammelband über Niklas Luhmann verzichtet auf allen Lärm und Überbietungsambitionen  ■ Von Peter Fuchs

Der Tod von Niklas Luhmann im November 1998 hat eine seltsame Leere hinterlassen, die wenig mit seinem Werk zu tun hat. Schließlich hat Luhmann, der Polyscriptor par excellence, alles andere als geschwiegen. Jene seltsame Leere und die Ausfüllung, die sie sucht, betrifft die Person und damit das Dahinter des Werkes, das sich ohne Luhmann verstehen lassen muß. Diese Leere sucht Antwort auf die Frage: Wer war Niklas Luhmann? Wie war er? Was war er? Und was ging mit ihm unwiederbringlich verloren?

Aber das sind Fragen, die er selbst so nicht zugelassen hätte. In aller Trockenheit und Schärfe hätte er sie als Zumutung abgetan. Kaum jemand bestand so hartnäkkig wie er darauf, daß die Konstruktion von Personen etwas anderes sei als eben Konstruktion, etwas anderes als das Produkt von immer auch motivierten Beobachtern, die sich selbst vorführen mit ihren Unterscheidungen – und gerade nicht den, den sie zu beschreiben trachten. Er hätte mit Energie darauf bestanden, hinter den Zumutungen dieser Konstruktionen unbeobachtbar zu sein, dämonisch in gewissem Sinne, einzigartig einsam und uneinsehbar.

Auf jeden Versuch durfte man deshalb gespannt sein, der es dennoch wagt, diese Uneinsehbarkeit durch ein Bild zu supplementieren, und besonders spannend müßte, so stand zu erwarten, der Versuch der Leute sein, die ihn kannten und die man kennt als diejenigen, die ihn kannten. Sie sind es, die genau wissen, daß das, was sie zu bieten und zu liefern haben, immer nur Nachtrag sein kann, immer nur zu spät kommt und niemals etwas anderes sein kann als Rekonstruktion. Der Versuch liegt jetzt tatsächlich vor.

Es ist ein dünnes und unaufdringliches, doch solide gemachtes Buch, das wohltuend darauf verzichtet zu lärmen. Ein Porträt Luhmanns als Introitus, eine kurze Vorbemerkung des Herausgebers Rudolf Stichweh, dann sechs Texte und die kurze Vorstellung der Autoren – das ist alles. Und es ist viel, insofern es gelungen ist, zwischen dem bloß Anekdotischen und jeglicher theoretischer Überbietungsambition hindurchzusteuern. Um ein altmodisches Wort zu bemühen: Die Autoren bemühen sich, der Sache, dem Anliegen zu dienen, über Luhmann zu reden, ihn zu ehren, ohne das Bewußtsein der Kontingenz ihrer Unterscheidungen zu verlieren. Sie bleiben in gewisser Weise bescheiden und verzichten auf die Attitüde der Brillanz, allesamt, wie unterschiedlich dann auch die Beiträge sind.

Der merk- und denkwürdigste ist „Die Zukunft des Gedächtnisses“ von Raffaele Di Giorgi, denn er ist ungemein mutig in der Verknüpfung des wissenschaftlichen Stils mit poetogenen Elementen. Der Text ist eine Kon-Fusion, ein Hybride und deswegen überraschend. Wer hätte je über Luhmann gesagt: „Er kam mit dem letzten Sonnenstrahl des Winters. Er folgte dem Strahl. Er lief ihm hinterher. Er liebte die rote Erde des Salento, er liebkoste mit seinem stillen Lächeln die tausendjährige Einsamkeit der Olivenbäume ...“ Man vernimmt sogar, daß die Bauern von Campone ihren „Professore!“ kannten und liebten. Dieses Spiel der Mythologisierung wird von Di Giorgio nicht ironisch gespielt. Er nutzt die literarische Form einer Überhöhung und Auszeichnung dessen, was in der gewohnten Welt nicht ganz verstehbar ist und was das 19. Jahrhundert „Genie“ genannt hätte. Der Eindruck, den Luhmann machte, als die beiden sich zum ersten Male trafen, wird so geschildert: „monumental wie Bronze, älter als Ägypten, ja älter noch als aus der Zeit vor den Prophezeiungen und den Pyramiden.“ Das ist die Sprache des Kultes. Die Frage ist, ob sie jenseits der Dichtung heute noch sozial funktioniert. Das ist es, worin dieser Text eine Gratwanderung vollzieht.

Dazu paßt, daß der Autor das Paulinische Damaskus-Erlebnis als Vorbild wählt, das Motiv des anfänglichen Nichtverstehens, dem Offenbarungen folgen. Das könnte fatal sein, wenn nicht diese Form als Form sichtbar gemacht wäre durch die allerorts eingestreuten Referenzen auf Luhmanns Theorie. Er hatte prophezeit, Theorie werde einst ein Lehrgedicht sein, vielleicht eine Repetition des Parmenides. Raffaele Di Giorgi nimmt diese Möglichkeit auf. Worüber sich dann staunen läßt, ist die Möglichkeit des Beieinanderwohnens der Schilfrohre von San Foca und der Hegelschen Ästhetik, dem Wind des Nordens, einem alten Lächeln aus Glas und der Ökologie des Nichtwissens. Daß dies funktioniert, ist der Kürze des Textes geschuldet. Wäre er länger, würde die Kon-Fusion als Konfusion wirksam.

Ganz anders Dirk Baecker mit: „Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas dahinter“. Der Titel variiert den der Abschiedsvorlesung Luhmanns: „Was ist der Fall, und was steckt dahinter?“ Die Variation ist provokativ. Denn Luhmanns Antwort war: Nichts steckt dahinter. Die Baeckersche Antwort ist: „Wenn Sinn der Fall ist, steckt Sinn dahinter.“ Beide Antworten sind fast identisch, so verschieden sie klingen. Sie formulieren eine Tautologie (Sinn ist Sinn; hinter Sinn steckt nur immer Sinn, also immer dasselbe, also nicht etwas anderes, also eigentlich nichts) auf eine Weise, die sie informativ macht.

Der Gewinn bei Dirk Baecker ist die Identifikation des Luhmannschen Rausches. Auch dies ist nicht ungefährlich. Es lag nahe, in Luhmann einen Ekstatiker der Selbstreferenz zu sehen, einen Trunkenen der Kurzschlüsse, des Tanzes der Paradoxien, maskiert als die äußerste Trockenheit und Konzentration, als eine Art Desinvolture. Der Rausch ist es, keiner Seite, weder dem System noch der Umwelt, zuschlagbar zu sein, weil die Theorie immer auf die Differenz und niemals auf eine Entität „System“ oder eine Entität „Umwelt“ trifft. Es gibt keinen ontologischen Halt, keine Halteregel, nur das Oszillieren in der Differenz, die immer dahintersteckt. Nietzsche hätte daran seine Freude gehabt.

Dirk Baecker geht jedoch elegant der Gefahr aus dem Weg, Luhmann ins Tanzen zu bringen. Er zeigt, wie der Entstehung des Rausches die ernüchternden Kräfte schon beigemischt sind. Das zentrale Gegengift ist die Beobachtung, die sich auf Beobachtungen richtet, die second order observation. Beobachten, das ist der Einsatz von Differenzen; Beobachtung zweiter Ordnung ist der Einsatz von Differenzen zur Beobachtung von Differenzeinsatz. Luhmanns Credo: Dahinter steckt immer eine Differenz. Es gibt keine Ruhe, jedenfalls nicht bei Luhmann, der nicht daran gedacht hat, Entlastungen zu formulieren für die unablässige Unruhe, die bei keinem Dahinterstecken innehält, sondern schaut, was dahintersteckt hinter dem, was dahintersteckt – und wer dann noch sehen will, was denn hinter allem Dahinterstecken schließlich doch dahintersteckt, sieht: nichts.

Auch Rudolf Stichweh formuliert in seinem Beitrag ein Damaskus. Die Alltagswelt der Wissenschaft läßt es zu, jemandem wie Luhmann zu begegnen, und die Begegnung ist folgenreich. Sie arrangiert Biographien um, auch die Stichwehs. Die Kraft, die dies möglich macht, ist die Obsession Luhmanns für Theorie, kombiniert mit der Tendenz, das, was theoretisch ausgearbeitet ist, sofort zu relativieren. Theorie, das ist nicht das Produkt von Gelehrsamkeit, Bildung, Wissen. Sie geht allem voraus oder hinterher, wie immer man will. Sie tat das jedenfalls bei Luhmann. Theorie ist es, die Lernfähigkeit erzwingt. Luhmann hatte eine „unbedingte Präferenz für Lernfähigkeit“. Und es ist ein wichtiges Verdienst Stichwehs, daß er dem Gerede vom Abschluß des Luhmannschen Werkes in der Gesellschaftstheorie die klare (und in der Logik der Theorie begründete) Absage erteilt, daß Luhmann selbst keine einigermaßen anspruchsvolle Theorie für konsolidierbar hielt. Theorie, das war und ist: theory in progress. Man kann, das hat Luhmann gezeigt, unter modernen Bedingungen um eine Theorie gleichsam gravitieren, aber man kann sie nicht stillstellen, abschotten und für sakrosankt erklären.

Franz Xaver Kaufmanns Beitrag „Ein Wittgensteinsches Schweigen“ nimmt sich seltsam bieder aus. Es scheint so, als werde hier der eigentlich ordentliche Beitrag geliefert, derjenige, der aus der Perspektive eines vieljährigen Fakultätskollegen sorgsam würdigt, was denn zu würdigen ist, und nicht würdigt, was nicht zu würdigen ist, dies dann aus einer seltsamen Distanz heraus, die zum Beispiel nicht verschweigt, „daß Niklas Luhmann nach meinem Eindruck mit Bezug auf die Fakultät für Soziologie lange Jahre in einer Art innerer Emigration gelebt hatte“. Ein seltsam knöcherner Satz, der verschweigt, daß hier ein historisches Versagen, vielleicht auch einfach nur ein Scheitern bezeichnet ist, das beispiellos in der Geschichte dieser Disziplin sein könnte. Die Geschichte dieses Scheiterns ist noch nicht geschrieben, es ist noch nicht Zeit, ungerecht zu sein, aber es ist bezeichnend und verblüffend, wie das Schweigen darüber in einem Text zirkuliert, der vom Wittgensteinschen Schweigen spricht.

Anders Gunther Teubner mit „Drei persönliche Begegnungen“. Auch hier findet sich die Damaskus-Semantik. Aber dann wird scharf gestellt auf die Person und ein Zusammenhang beobachtet zwischen der Distanzerfahrung, die Luhmann jedem vermittelte, und der Theorie selbst. Luhmann war kein Nah- und Berührungsmensch. Er verabscheute deutlich das „Kleben der Blicke“. An dieser Stelle muß auch Teubner eine Gefahr vermeiden, daß nämlich durchgeschlossen werden könnte von der Kälte des Menschen, dem die schwitzig verklebte Wärme des Menschelns verhaßt ist, auf den eisigen Wind der Theorie. Und Teubner kann dieser Gefahr aus dem Wege gehen, indem er von der Theorie psychischer Monaden oder unaufhebbar einsamer, in sich zirkulierender bewußter Systeme auf einen Habitus zurückschließt, der gleichsam wahrhaftig ist, dem Umstand Rechnung trägt, daß Verschmelzungen und Berührungen zwischen Menschen sorgsam gepflegte Illusionen sind. Diese implizite Referenz auf eine sozusagen die Theorie lebende Wahrhaftigkeit ist dekkungsgleich mit der Mutmaßung, das Werk (diese Theorie) sei musikalisch, mithin künstlerisch gebaut, es sei in einem beinahe genauen Sinne eine grandiose, überaus moderne Komposition, die erst noch entziffert und das heißt wohl: ästhetisch beobachtet werden müsse.

Vielleicht ist hier eine Schlüsselmetapher geliefert, die es gestattet, analog zur Entzifferung der Proustschen Kathedral-Architektonik Luhmanns musikalische Labyrinthik zu verstehen – und beide als Werke einer Zeit.

Die Theorie hat einen „ästhetischen Appeal“, heißt es schließlich bei Dietrich Schwanitz. Sie hat, wie man auch sagen könnte, eine eigentümliche Erotik. Sie ist sinnlich, und Schwanitz er-findet die Erzählung dazu. Sie könnte wahr, sie könnte auch nur gut erfunden sein. Der Autor trägt sie lässig vor. Luhmann wird in Dubrovnik bei einer Tagungssitzung erwartet. Er kommt nicht, er ist nicht da. Hans-Ulrich Gumbrecht (der das Zeug zum Liebhaber hat) geht ihm, der da kommen soll, entgegen. Schwanitz bleibt, und siehe, auf einmal ist Luhmann da. Wir sehen die Epiphanie einer Sphinx. „Wir kamen uns vor wie die Jungfrauen, die kein Öl auf der Lampe hatten.“ Wer von den Törichten begrüßt den Bräutigam? Schwanitz, ermuntert von Jan Assmann, tut es: „Society and social laws lay hid in night / God said: Let Luhmann be and all was light.“

Dies ist nicht die einzige Geschichte. Es kommt noch eine weitere, die hier nicht mehr verraten werden soll. Es gelingt Schwanitz, in der von ihm so sorgfältig gepflegten Schnoddrigkeit einen Luhmann zu erzählen, den man hat lieben können müssen – als einen großen Gleichmütigen und Unaufgeregten, der ja doch zutiefst erregt war – wie die großen Erzähler, in deren Nähe Schwanitz ihn per analogiam rückt.

Niklas Luhmann: „Wirkungen eines Theoretikers“. Herausgegeben von Rudolf Stichweh. transcript Verlag, Bielefeld 1999, 72 Seiten, 18 DM

Er kam mit dem letzten Sonnenstrahl des Winters. Er liebkoste mit seinem Lächeln die tausendjährige Einsamkeit der Olivenbäume

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