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Ein bißchen Heimat

Ein Seniorenheim soll den Bedürfnissen hier lebender Migranten entgegenkommen – vom Essen bis hin zur Religion. Die Nachfrage nach einem Lebensabend fern der Familie wächst auch bei Migranten  ■   Von Nils Kopp

„Merhaba“, sagt der dunkelblonde Mittdreißiger und begrüßt die Gäste seines Hauses mit Handschlag. „Merhaba“ kommt es zurück. Nein, ein Türkisch-Kurs hat nicht zu seiner Ausbildung gehört, aber als Leiter des multikulturellen Seniorenzentrums „Haus am Sandberg“ bekommt Ralf Krause die eine oder andere Vokabel automatisch mit.

Seit zwei Jahren betreibt das Deutsche Rote Kreuz das Heim in Duisburg-Homberg, das erste seiner Art. Als der Neubau des ehemaligen „Haus Rheinkamp“ anstand, überlegten Heim- und Referatsleitung im DRK, wie eine Pflegeeinrichtung aussehen müßte, um auch muslimische Menschen anzusprechen. Zusammen mit Wissenschaftlern, Mitarbeitern und Bewohnern wurden in Workshops die Vorstellungen vom multikulturellen Miteinander in dem neuen Haus umgesetzt. Heute leben hier 87 Deutsche zusammen mit 4 Türken, einem Kurden und einem Italiener. Demnächst soll ein Marokkaner einziehen.

Die rund zehnköpfige Besuchergruppe, die Heimleiter Krause empfängt, ist nicht zum ersten Mal hier. Ein- bis zweimal im Monat besucht der türkische Rentnerverein aus Duisburg-Marxloh das Heim. Zusammen mit den türkischen Bewohnern und Betreuern werden dann Unternehmungen geplant, Erinnerungen ausgetauscht und vor allem wird gefrühstückt. Schafskäse, Knoblauchwurst und Tee.

Der Austausch zwischen Gästen und Bewohnern ist schwierig. Die Pflegebedürftigen haben nicht mehr die Energie oder gar das physische Vermögen, sich rege an den Gesprächen zu beteiligen.

Vielleicht würden Zyniker behaupten, es sei vergebene Liebesmüh, für einen altersverwirrten Menschen eine Umgebung zu schaffen, die sich speziell an seinem kulturellen Hintergrund orientiert. Bengi Vardar würde vehement widersprechen. Sie ist Sozialarbeiterin im „Haus am Sandberg“. „Allein der Klang der Sprache, die Geräusche, wenn man Tee in ein türkisches Teeglas füllt, wecken Erinnerungen und schaffen Vertrautheit.“

„Ich hätte nicht gedacht, daß ich so lange in Deutschland bleiben würde“, übersetzt sie, was Asir Yildiz erzählt. Der alte Mann ist ebenfalls auf den Rollstuhl angewiesen. „Stets träume ich von der Türkei, von meiner Heimat und würde sofort wieder dorthin, wenn ich könnte.“ Er war ein junger Mann, als er Erzurum in Ostanatolien zusammen mit seinen beiden Brüdern verließ. Der Maurer fand gute Arbeit in Deutschland. Erst in Hannover, später in Essen. Immer wieder schob er die eigentlich geplante baldige Rückkehr wieder auf. Nach ein paar Jahren kam seine Familie nach und schlug hier Wurzeln. Jetzt ist es zu spät für eine Rückkehr. Die Vorstellung, in Deutschland alt werden und schließlich sterben zu müssen, bedrückt Asir Yildiz. Seinen Brüdern ist es bereits so ergangen.

Solche und ähnliche Schicksale machen die Arbeit von Bengi Vardar nicht leicht. Vielen von ihren Landsleuten aus der ersten Einwanderungsgeneration geht es wie Yildiz. Nur noch rund 20 Prozent aller Migranten wollen dauerhaft in die Heimat zurückkehren. So schätzt das Statistische Bundesamt, daß sich die Zahl der älteren Senioren zukünftig etwa alle 10 Jahre verdoppeln wird (1997 waren 300.000 Migranten über 65). „Die Umkrempelung aller Vorstellungen“, so Vardar, bedeute es für diese Menschen, nun in einem Land alt zu werden, das ihnen immer fremd geblieben ist. Ein Land, in dem zu leben sie immer als ein Provisorium gesehen hatten. Diese Menschen stellen Sozialarbeit und Pflege vor neue Herausforderungen. Gerade die erste Generation der einstigen Gastarbeiter hat hier besondere Bedürfnisse. So ist bei den älteren Migranten die Sprache noch ein großes Problem. Problematisch sind außerdem religiöse Besonderheiten.

Das fängt mit der simplen Frage an, in welcher Richtung Mekka liegt, geht über das Verbot von Schweinefleisch bis hin zu den Sitten bei religiösen Festen. Ist die Pflegeeinrichtung nicht auf muslimische Bewohner oder Patienten eingestellt, kann es zu enormen Mißverständnissen kommen. So gab es beispielsweise in einem Frankfurter Krankenhaus den Fall einer älteren Türkin, die für suizidgefährdet gehalten wurde. Ihre Pfleger wußten nicht, daß sie nur ihre religiösen Pflichten im Rahmen des Ramadan ausübte.

Gerade in religiösen Belangen ist das „Haus am Sandberg“ luxuriös ausgestattet, so daß die Mitglieder des Marxloher Rentnervereins bei ihren Besuchen gern den Weg in den Keller machen und dort die Gelegenheit nutzen, im muslimischen Gebetsraum – der Mescid – zu Allah zu beten. Vor dem Raum das Waschbecken für die rituelle Reinigung von Armen und Beinen, in der Mescid selbst allerlei für's Auge: kunstvoll bemalte Kacheln, ein prunkvoller Kronleuchter. Wenn die Marxloher Rentner allerdings nicht hier sind, bleibt die Mescid meist leer. Längst nicht alle Türken sind streng gläubige Muslime. Außerdem können auch Muslime überall beten und müssen dazu nicht in eine Mescid gehen. Da verzichtet manch einer der schwächeren Bewohner dann lieber auf den beschwerlichen Weg drei Stockwerke tiefer.

Ebenfalls im Keller, direkt gegenüber vom Gebetsraum, hat Waltraud Hempel sich eine kleine Trinkhalle eingerichtet. Hier versorgt sie die Bewohner – zu denen sie selbst gehört – mit Chips und Dosenbier. Daß ihr Heim multikulturell ist, findet sie gut: „Hier kann jeder aufgenommen werden. Egal welche Religion und welcher Staat.“ Und darauf besteht sie auch: „Die Leute haben hier gearbeitet, haben hier Steuer bezahlt, und wenn die jetzt nicht mehr können, ja, dann müssen sie doch auch eine Ecke haben, wo die hingehören.“ Einer dieser Leute, der Kurde Ali Boncuk, gehört zu ihren Stammkunden. Boncuk spricht kein Deutsch, die beiden unterhalten sich englisch. Und wenn das nicht mehr klappt, „dann spricht er arabisch weiter, und ich gucke blöd aus der Wäsche.“

Genau ein Stockwerk über Frau Hempels Büdchen befindet sich der Eingangsbereich. Wer hier die Wände studiert, der findet eine Sammlung von Fotos, die ältere Menschen in fröhlicher Runde zeigen. Sie stammen von den Festen der vergangenen Monate: vom Sekerbayrami, dem muslimischen „Zuckerfest“ und dem 'Karnavalin önceki pazartesi ‘, wie die Türken den Rosenmontag nennen. Am schwarzen Brett hängen kopierte Artikel über das Heim aus der Lokalzeitung. Multikulti im Altenheim, eine Idee, die dem Haus viel Aufmerksamkeit beschert.

Dabei versprach der Name des Heims lange mehr, als die Realität halten konnte. Herr Mazzolini aus Italien, erzählt Heimleiter Krause, blieb in den ersten Monaten der „Vorzeige-Ausländer“ – und dazu einer, der weder Schweinefleisch verschmähte noch gen Mekka betete. Erst nach und nach gesellten sich die türkischen Bewohner hinzu. Die mäßige Nachfrage war Wasser auf die Mühlen der Kritiker. 10 bis 15 Jahre zu früh käme die Initiative des DRK, argwöhnt die Duisburger AWO. Viele der Migranten seien zwar inzwischen im Rentenalter, aber noch nicht pflegebedürftig. Viel wichtiger sei es, diesen Menschen ein auf ihre Kultur zugeschnittenes Freizeitangebot zu machen.

Ralf Krause blieben solche Stimmen nicht verborgen: „Es gab sogar Ketzer, die gesagt haben: ,Ihr fördert ja geradezu, daß die Familien ihre älteren Leute abschieben.‘ “

Das Projekt, hält Krause dagegen, sei von vornherein langfristig angelegt gewesen. Man wollte Erfahrungen sammeln, um auf zukünftige Entwicklungen vorbereitet zu sein. „Das Familiengefüge gleicht sich dem westlichen Standard an.“ Krause folgert, daß es Tausende ausländischer Senioren geben könnte, die in den nächsten Jahrzehnten einen Heimplatz benötigen. Und tatsächlich bekommt er inzwischen immer mehr Anfragen von Migranten unterschiedlicher Nationalitäten.

Auch die interkulturelle Idee an sich ist nicht unumstritten. Serif Issi von der Kölner AWO zum Beispiel glaubt nicht, daß sich Senioren in einer gemischt-nationalen Gruppe wohlfühlen. „Wenn ein Türke und ein Italiener in einem Zimmer wohnen, wer soll denn bestimmen, welches Fernsehprogramm gesehen wird?“ Zuerst, meint Issi, müßten die Menschen sich mit ihresgleichen zusammentun, dann kann der Schritt nach außen folgen. Und in der Tat ist das „Haus am Sandberg“ inzwischen vom konsequenten Mit- und Durcheinander der Kulturen abgerückt. Auf eigenen Wunsch wohnen Herr Yildiz, Frau Yilmaz und ihre Landsleute auf einem eigenen Gang oben auf der zweiten Etage. Was manche als Ghetto betrachten – das haben Betreuer und Pfleger erkannt – kann für die Menschen, die dort leben, eine „wertvolle Ressource“ sein, so die Betreuerin Bengi Vardar. „Wenn die Leute sich morgens auf dem Gang sehen und 'Günaydin‘ – 'Guten Morgen‘ – sagen können, das allein ist schon viel wert.“

Inzwischen ist es Mittag, das Essen wird serviert. Neben Gulasch und Frikadelle gibt es Lammfleisch mit Okra, einem türkischen Gemüse. Für die Besucher des Marxloher Rentnervereins wird es Zeit zu gehen. Wenn sie einmal auf Pflege angewiesen sein sollten, vielleicht werden sie dann schon wählen können zwischen verschiedenen Einrichtungen nach Vorbild des „Haus am Sandberg“. Vielleicht wird multikulturelle Altenpflege dann bereits ein Stück Normalität geworden sein. Die Marxloher Rentner jedenfalls fänden es wichtig, in einem Heim ihre Religion ausüben, ihre Kultur leben und ihre Sprache sprechen zu können. Und ihre regelmäßigen Besuche im „Çok kültürlü huzureve ,Haus am Sandberg‘ “ zeigen, daß sie sich jetzt bereits mit einem möglichen Heimaufenthalt auseinandersetzen: „Wenn es später einmal nötig sein sollte“, sagt einer der Marxloher Rentner, „würde ich gerne hier wohnen.“

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