: Leere Erdgeschosse
Autodidakt und Meister des modernistischen Bauens: Dreiteilige Dokumentation über Le Corbusier ■ Von Helmut Merschmann
„Man sagt, Mathematik tötet die Poesie. Dabei ist sie ihre Essenz.“ Auf kein treffenderes Motto könnte man das Wirken Le Corbusiers bringen, als es der französische Architekt und Doyen des International Style selbst getan hat. Seine richtungweisende Architektur verbindet geometrische Strenge mit expressionistischem Formempfinden, seine Bauwerke gleichen Skulpturen. Funktionalität und Ästhetik, so das Credo der Modernisten, sollten eine Synthese, einen dauerhaften Standard bilden.
Die dreiteilige Filmdokumentation von Jacques Barsac, die sich an Le Corbusiers Schaffensperioden orientiert, schildert seine architektonischen Anfänge und stellt die wichtigsten, zum Teil nicht realisierten Werke vor, von den „Maisons Dom-ino“ (1915) bis zur Wallfahrtskirche in Ronchamp (1955). Die Metapher des Fliegens, die sich durch die Dokumentation zieht, verdeutlicht Le Corbusiers Weg: eine von Fehlschlägen und Anfeindungen geprägte Suche nach dem scheinbar Unmöglichen, nach der Versöhnung von Kunst und industrieller Produktion.
Studienreisen führten den 1887 in der Schweiz geborenen Sohn eines Uhrenfabrikanten früh nach Italien und Griechenland, wo er die klassische Architektur bewunderte. Als Architekt ist Le Corbusier, mit bürgerlichem Namen Charles-Éduard Jeanneret, Autodidakt. Nach einem dreijährigen konventionellen Kunststudium und der ebenso langen Reise, von der er mit unzähligen Entwürfen nach Paris zurückkehrt, stürzt er sich in die Produktion. Sein erstes Haus baut er für einen Lehrer an der Kunstschule, später plant er Städte für Millionen.
Seinen Kunstbegriff bezieht Le Corbusier aus der Zusammenarbeit mit Amédée Ozenfant, einem Pariser Maler, der ihn mit dem Purismus konfrontiert. Zusammen schreiben sie das Manifest „Après le cubisme“ und gründen 1920 die berühmte Avantgarde-Zeitschrift L'Esprit Noveau. Darin findet sich der Aufsatz „3 Hinweise für Architekten“, ein revolutionäres Pamphlet, in dem Le Corbusier für einen naturwissenschaftlichen Kunstbegriff plädiert: „Die Probleme moderner Architektur werden von der Geometrie gelöst.“
Im Zeitalter von Massenproduktion, Mobilität und uferlosen Metropolen waren neue Wege in der Architektur gefragt. Wie konnte dem steigenden Bedarf an Wohnungen nachgekommen und wie sollte auf die neuen Bedürfnisse des Wohnens reagiert werden?
In den Werkstoffen Stahlbeton und Glas fand Le Corbusier die geeigneten Mittel, um die Beschränkungen traditioneller Architektur zu überwinden. Sie erlaubten es ihm, die für seine Bauwerke typischen eleganten Rundungen, Wendeltreppen und Durchsichten nach Belieben einzuplanen. Auch war es erstmals möglich, die Gesetze der Statik zu überlisten oder ins erste Stockwerk zu verlagern: Das Erdgeschoß der Corbusier-Bauten bleibt oft licht und leer, die Häuser sind auf Stelzen gebaut.
Mit der „Stadt für 3 Millionen“, einem nicht realisierten Projekt, versucht Le Corbusier Gemeinwesen und Privatsphäre in Einklang zu bringen. Im Zentrum der Siedlung türmen sich kreuzförmige Wohnsilos, umkränzt von mehrgeschossigen, oktogonförmigen Flachbauten. Bei 88 Prozent Begrünung und einer bis ins Detail geplanten Organisation des öffentlichen Lebens schien Le Corbusier seinem Ziel einer dem Menschen dienlichen Architektur nicht fern. Mitstreiter am Dessauer Bauhaus und beim Deutschen Werkbund, berühmte Kollegen wie Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius, sahen das ähnlich.
Heute, nach den oft leidigen Erfahrungen im Siedlungsbau, fragt sich, ob der Masterplan der Modernisten tatsächlich immer Patentrezept gewesen ist. Die Dokumentation hält sich in diesem Punkt bedeckt und feiert den Genius, die unbestritten hohe ästhetische Qualität seiner Arbeit. Manchmal recht plakativ: Als Le Corbusier 1925 die Cité Fruges baute, eine kleine Siedlung in der Nähe von Bordeaux, warfen ihm die Wasserwerke Inhumanität vor und drehen ihm das Wasser ab. Erst acht Jahre später konnten die Wohnungen bezogen werden. Im Film folgen darauf Bilder enger, elender Altbaustraßenschluchten im Paris der zwanziger Jahre. Dagegen ist natürlich jede noch so gigantomanische Wohnstadt vorzuziehen.
Vom 17. bis 23. Juni im Eiszeit-Kino
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