„Eine zerbrechliche Freiheit“

■ Das Coming-out ist für junge Lesben und Schwule leichter geworden. Doch gibt es immer noch Mitschüler, die auf Distanz gehen, oder Freunde, die sich abwenden. Vier Jugendliche zwischen 16 und 19 Jahren berichten über ihre Erfahrungen und ihr Lebensgefühl

taz: Wie reagieren eure Mitschüler, wenn sie mitkriegen, daß ihr lesbisch oder schwul seid?

Mario: Bei mir in der Schule ist es sehr schwer. Auf meinem Gymnasium sind sehr viele Rechte. Das ist nicht überall in Marzahn so, aber an unserer Schule sind die stark vertreten. Es wissen wirklich nur meine drei besten Freunde. Sonst niemand. Trotzdem kommen ab und zu so Sprüche: „Da ist was nicht ganz normal bei dem.“

Alexander: Das hängt aber auch davon ab, ob man selbstbewußt auftritt. Ich bin an meiner Schule in Pankow von Anfang an offen damit umgegangen und habe es jedem gesagt. Dann kam auch einfach nichts.

Martina: Wenn man es offen sagt, gibt es für die anderen keinen Grund, zu spekulieren. Ich habe später erfahren, daß es an meiner Schule schon Gerüchte gab, als ich selber noch nicht genau wußte, ob ich lesbisch bin oder nicht.

Mario, könnte es brenzlig werden, wenn du an deiner Schule offen schwul auftreten würdest?

Mario: Ich weiß es nicht. Ich glaube sogar, es würde einfacher werden. Dann würde keiner mehr tuscheln.

Denise, deine Freunde haben sich nach deinem Coming-out von dir distanziert. Wie war das?

Denise: Vor dem Sportunterricht wollte sich niemand mehr mit mir im Umkleideraum umziehen. Bei Klassenfahrten wollte sich niemand mehr ein Zimmer mit mir teilen. Es hat aber keiner direkt gesagt: „Du bist lesbisch, und ich hab' ein Problem mit dir.“ Sie haben sich einfach von mir entfernt.

Wie hast du das erlebt?

Denise: Am Anfang war das ziemlich schmerzlich, weil ich immer dachte, das wären gute Freunde von mir. Ich habe mich auch mit meinen Eltern darüber unterhalten, und wir waren einer Meinung: Vielleicht ist es besser, daß sie sich abgewendet haben, als wenn sie falsch hinter meinem Rücken über mich reden.

Haben dich deine LehrerInnen unterstützt, als sie mitbekamen, daß du geschnitten wirst?

Denise: Ja, sie haben es mir angeboten. Es gibt mehrere homosexuelle Lehrer an unserer Schule. Ich hab' gesagt, es sei schon okay. Tja, teilweise hatte ich eine bessere Beziehung zu meinen Lehrern als zu meinen Mitschülern. Damit kann ich leben.

Haben sich denn die anfänglichen Reaktionen deiner MitschülerInnen gelegt?

Denise: Es gibt eigentlich keinen mehr, der noch so sehr auf Distanz geht. Aber es wissen immer noch nicht alle. Obwohl mir gesagt wurde, die ganze Schule weiß es auf einmal. Wieso, weiß ich nicht.

Lesben und Schwule sind in den letzten Jahren viel präsenter in der Öffentlichkeit als früher. Ist es Ende der 90er Jahre einfacher mit dem Coming-out?

Martina: Für mich war es sehr einfach. Bei meinen Freunden.

(Zustimmung aus der Runde)

Alexander: Es kommt auch darauf an, auf welche Schule man geht. Auf der Haupt- oder Realschule wäre es sicher schwieriger.

Denise: Viele Hauptschüler sind durch ihre Eltern geformt. Wenn die Eltern sagen: „Was ist das denn für eine Schwuchtel?“, dann übernehmen sie solche Vorurteile.

Mario: Mein Vater weiß, daß ich schwul bin. Der hat eigentlich kein Problem damit. Er meint, das sei nur so eine Phase. Ich solle mal nach einer Freundin gucken. Ich kann aber trotzdem meine Freunde mitbringen. Es ist ziemlich locker.

Wenn er von einer „Phase“ spricht, bedeutet das doch, er nimmt dich nicht ernst.

Mario: Es ist okay, solange er sich nicht wieder aufregt.

Hat sich euer Freundeskreis nach dem Coming-out verändert?

Mario: Absolut! Nur ein paar aus meinem Tennisverein sind übriggeblieben. Die meisten meiner Freunde sind aus der Szene.

Alexander: Bei mir ist das halbe-halbe. Ich habe auch ganz viele Hetero-Freunde. Gerade in der Schule.

Denise: Nach meinem Coming-out haben sich ganz viele von mir distanziert. Ich fand es aber nicht schlimm, weil ich dachte, dann können es ja keine richtigen Freunde gewesen sein. In dem Sinne war das nicht wirklich negativ, ich habe halt ein wenig ausgesondert. Jetzt ist mein Freundeskreis trotzdem Hälfte-Hälfte.

Alexander: Mein Coming-out war sehr problemlos. Ich hatte deshalb nicht das Bedürfnis, radikale Schnitte zu machen.

Martina: Schwierig wird es nur, wenn ich mit Hetero-FreundInnen ausgehen will. Sie kommen gerne mit in lesbisch-schwule Clubs. Aber wenn die mich fragen, ob ich in ihre Lieblingsdisko mitkomme, sage ich immer nein. Ich bin lieber in Kreisen, wo mehr Homos sind. Natürlich sind sie dann ziemlich sauer und sagen, ich sei intolerant.

Wo geht ihr hin, wenn ihr ausgeht?

Mario: Ich habe schon alles ausprobiert, Jugendgruppen, Szenelokale, die lesbisch-schwule Jugenddisko. Aber es gefällt mir nirgendwo so richtig.

Würdest du dir wünschen, daß es mehr Angebote gäbe?

Mario: Eigentlich schon. Wo soll man sonst Leute kennenlernen? Ich habe Kontaktanzeigen geschaltet, aber das hat auch nichts gebracht. Da melden sich Dreißig- bis Fünfzigjährige und sagen: „Hallo, ich bin Arzt.“ Dabei stand in der Anzeige, daß ich jemanden in meinem Alter kennenlernen möchte.

Denise: Ich bin einmal in der Lesbenbar „Pour Elle“ gewesen. Da gehe ich nicht noch mal hin. Oder erst, wenn ich 50 bin.

Was hat dich so abgeschreckt?

Denise: Du gehst da hin als 16jährige und sitzt auf dem Barhocker, alle starren dich an und fangen fast an zu sabbern. Du wirst immer beobachtet, und wenn du aufs Klo gehst, kommen sie dir hinterher. Ich habe mich da überhaupt nicht wohl gefühlt.

In der Szene fühlt ihr euch nicht so aufgehoben. Was bedeutet für euch der Christopher Street Day, die Lesben-und-Schwulen-Parade am 26. Juni?

Martina: Das ist vor allem 'ne große Party, obwohl man schon im Hinterkopf hat, wie es angefangen hat: 1969 haben sich in New York Lesben und Schwule gegen Polizeirazzien in Szenelokalen gewehrt.

Alexander: Das ist wie ein großer geschichtlicher Augenblick, wie die Französische Revolution. Hach, die Freiheit! Das war der Beginn der Lesben- und Schwulenbewegung.

Denise: Ich find' den Christopher Street Day klasse, weil man sich richtig schön verkleiden und auf die Straße gehen kann. Wenn ich sonst in Lederklamotten ankomme, heißt es: „Du hast sie doch nicht alle.“ Der CSD ist ein Tag, an dem man das machen kann, was man gerne möchte.

Mario: Ich finde es ganz wichtig, daß die Leute sehen, es gibt so viele Lesben und Schwule. Damit es selbstverständlicher wird, lesbisch oder schwul zu sein.

Denise: Neulich habe ich jemandem erzählt, an diesem Wochenende ist das lesbisch-schwule Straßenfest am Nollendorfplatz und eine Woche später der Christopher Street Day. Da regte sich das Mädel auf: „Was? Innerhalb von zwei Wochen gibt es zwei homosexuelle Feste – und was ist mit den Heteros?“ (allgemeines Gelächter) Ich habe das Gefühl, daß das manche Leute stört!

Martina: Manche denken, die Heterosexuellen sterben aus. Die fühlen sich irgendwie bedroht.

Der Christopher Street Day hat sich in den letzten Jahren von einer politischen Demonstration zu einer Spaßparade entwickelt. Ist es überhaupt noch notwendig, für etwas zu kämpfen, weil doch schon vieles erreicht ist?

Martina: Es ist auf jeden Fall wichtig, sich für seine Rechte einzusetzen. Es muß nicht die Ehe für Lesben und Schwule sein, aber die Gleichstellung.

Alexander: Solange nicht eine wirkliche Gleichstellung existiert, gibt es immer was zu kämpfen. Die eingetragene Partnerschaft wie die Hamburger Ehe für Lesben und Schwule bringt ja nicht viel. Homosexualität ist nur in gewissen Kreisen akzeptiert. Ich glaube, das ist noch eine ziemlich zerbrechliche Freiheit.

Warum lohnt es sich, für die Ehe zu kämpfen?

Martina: Wir wollen alle Rechte, die eine Ehe beinhaltet ...

Mario: ... auch das Adoptionsrecht.

Alexander: Es geht auch darum, in der Gesellschaft eine Präsenz aufzubauen, also gesellschaftliche und politische Führungspositionen zu besetzen. Immerhin gibt es in fast jeder Partei so ein paar Quotenschwule.

Was für eine Beziehung wünscht ihr euch persönlich?

Martina: Ich glaube nicht an eine lebenslange Partnerschaft.

Ich kann mir nicht vorstellen, fünfzig Jahre mit derselben Person zusammenzuleben. Aber ein paar Jahre schon. Eine Beziehung wünscht sich doch fast jeder, oder?

Mario: Es gibt so ein Schubladendenken, daß Schwule immer nur Sex wollen. Bei mir ist es genau das Gegenteil. Ich hätte am liebsten eine Beziehung, die bis zum Lebensende geht. Davon träumt doch jeder, daß er die Liebe seines Lebens findet.

Alexander: Es kommt, wie es kommt. Wenn man sich verliebt, verliebt man sich.

Stellt ihr euch eine monogame Zweierbeziehung vor?

Denise: Es wäre kein Problem, wenn meine Partnerin noch jemand anderen haben wollte, so nebenbei und ab und zu. Ich bräuchte so was nicht, aber es wäre okay.

Alexander: Das hängt aber auch davon ab, wie sehr man jemanden liebt.

Mario: Das glaube ich auch.

Martina: Nee, ich kann das trennen.

Wie stellt ihr euch euer Leben vor, wenn ihr nicht in Berlin leben würdet?

Alexander: Ich habe mal ein halbes Jahr in einer französischen Kleinstadt gelebt. Es ist gar nicht so schlimm.

Mario: Mir gefällt die Anonymität der Großstadt. Ich bin vor zwei Wochen mit meinen Eltern in die Nähe von Schönefeld gezogen. Da ist es noch ziemlich konservativ. Da kann ich nicht mit meinem Freund Hand in Hand gehen.

Alexander: Ich hab's einfach trotzdem gemacht.

Interview: Katrin Cholotta (21) und Dorothee Winden (38)