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Kamasutra im Freien

■ Die Freilichtbühne Lilienthal hat „Faust“ für Jedermann inszeniert

Nur die Harten können so lange warten, bis der immense Schmerz und damit die ersten dreißig Minuten der „Faust“-Inszenierung der Freilichtbühne Lilienthal vorüber sind. Vor mittelalterlicher Pappmachéburgkulisse tummelt sich zeitweise halb Lilienthal, rezitiert im Schüttelreimverfahren allerlei Goethöse und spielt – ojeoje! – Ringelrangel mit Jauchzeinlagen, wo der Freiherr doch ein ausgelassenes Bauernfest auf der Bühne sehen wollte. Daß man der ersten Regung widersteht und nicht schon bald mit Programmheft, schwarzer Freilichtbühne-Tasse sowie gelben Freilichtbühne-Feuerzeugen, -Kugelschreibern und -Aufklebern wirft, ist vor allem Mephisto zu verdanken.

Diesen Bösewicht, der den selbstmordgefährdeten Dr. Faust um seine Seele zu bringen gedenkt, spielt Dietrich Sämann verführerisch, mit Selbstironie, Witz und dennoch nicht frei von jener Abgründigkeit, die einem wahren Seelenfänger zum Bürgerschreck gereicht. Im eng anliegenden schwarz-roten Kostüm schleicht er in Faustens verklemmtes Inneres, erzählt betörend von Sex, Drugs und Rock'n'Roll, bis der von Höllenqualen gepeinigte Herr Akademiker nicht mehr weiß, ob der Sinn des Lebens über oder unter der Gürtellinie zu finden ist.

Dabei schert sich die von Oskar Pfister verantwortete Inszenierung um die existentiellen Nöte des bemühten, aber blassen Faust (Dieter Klau-Emken) wenig. Zwar parliert er von Zerissenheit, reiner Liebe und hehrer Moral, doch so recht interessieren will das alles nicht. Zu hell strahlt Mephistos Lebenslust, zu einnehmend sind die ständigen, tatsächlich naheliegenden Ausritte ins Boulevardeske, zu neugierig ist man auf die nächste freiwillig oder unfreiwillig komische Szene. Kein Faust für vertrocknete Germanisten, eher die Ohnsorgtheaterversion für jene, die als des Pudels Kern eine Mischung aus nach wie vor wunderschönen Versen und drallem Volkstheater betrachten.

Höhepunkt des Abends: die Walpurgisnacht. Allerlei Hexengestalten – Sonderlob für die Kostüme! – vergnügen sich in schrillem Outfit aufs Heftigste miteinander. Daß sin dieser minutenlangen Sequenz niemand auf Faustens wirklich dramatische Nöte blickt, aber alle auf das derbe Treiben um ihn herum, verdankt sich jenen göttlichen namenlosen Paaren am Fuße und auf der Spitze des Schloßturms. Mit todernsten Gesichtern turnen sie sich vor den Augen des erstaunten Publikums von Fellatio über 69 bis Cunnilingus durch alle erdenklichen sexuellen Praktiken. Und wie Schuppen fällt es aus den Haaren: die Erkenntnis, daß die aufklärerische Wirkung Goethes weit hinter jener zurücksteht, die Fernsehsendungen wie „Wahre Liebe“ oder „Liebe Sünde“ für sich verbuchen können.

Daß die Inszenierung dennoch nicht völlig abgleitet in trashiges Spaßtheater, ist neben Sämann vor allem der beeindruckenden Elke Ohlrogge zu danken. Ihr Gretchen verkörpert in überzeugender Manier, was der Figur ihres Liebsten Faust zumeist abgeht: wahre Leidenschaft, tief empfundene Liebe, herzzerreißendes Leid.

Nach zwei Stunden schlich man unter grandiosem, fledermausbehangenem Himmel zum zwischen zwei Kuhweiden gelegenen Parkplatz, um die Erkenntnis reicher, daß man Faust heute im Grunde nur noch so inszenieren darf, wie es die Freilichtbühne Lilienthal vorgemacht hat. Wirklich großes Theater! Franco Zotta

Nächste Aufführungen: 25., 26., 30. Juni und 2., 8., 9., 14., 16 Juli jeweils um 20 Uhr. Karten unter Tel.: 34 69 891 u. an der Theaterkasse (% 04298/301 98)

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