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Auf AugenhöheDie sich bis zum Morgen ertränken

■ Von Rolf Lautenschläger

Hin und wieder wird man im heutigen Berlin noch an die Zeiten anstrengender Klassenfahrten in die Frontstadt erinnert. Als jüngst im feinen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt recht distinguiert die Frage erörtert wurde, wie die Hauptstadt zur „geistigen Metropole“ avancieren könnte, interessierten sich zwei Wiener Professoren in der Reihe hinter mir nur für den Geist im Wein – und zwar en masse und ohne Ende.

Daß es an der Donau immer noch en vogue ist, nach Berlin zu reisen, um sich hier bis morgens „so ganz ohne a Polizeistund‘“ zu ertränken, verwundert nicht ganz. Wer dachte, die Achse Berlin-Wien bietet mehr als nur als gastronomisch-alkoholischer Bedürfnisbefriedigung, braucht nicht nur die Schaupielhaus-Erfahrung zu zitieren: Schon den Wiener Maler Alfred Hrdlicka hatte seine Meisterklasse in der Hochschule der Künste nie zu Gesicht bekommen, weil er es vorzog, die Kneipen rund um den Steinplatz bis ultimo zu testen. Und klar wird auch, warum es Claus Peymann ans Berliner Ensemble zieht. Bei Zechtouren bis in die Früh' lassen sich durchgefallene Premieren besser verkraften.

Erschütternd stellt man fest: Was für die Schülergruppen aus dem Rest der Republik galt und gilt, nämlich nach dem Kulturprogramm sich ins Nachtleben ohne Sperrstunde abseilen zu können, rangiert sowohl bei Touristen aus Röthenbach/Allgäu als auch beim Establishment ganz vorn auf der nach oben offenen Berlin-Skala. Haben die Klassenfahrer einst auf dem Protestpodest am Potsdamer Platz gestanden und mit dickem Kopf über die Mauer geblickt, dreht sich heute in der Reichstagskuppel oder im Schauspielhaus weiterhin alles Berlin-Correct nur um das Eine.

Bei uns Berlinern ist die Stadt ohne Sperrstunde kein Thema mehr. Wir müssen nicht darüber reden wie die Selbsterfahrungsgruppen auf dem Weg zum Kurfürstendamm oder in die Hackeschen Höfe. Wir machen es einfach. Das ist nicht eitel oder selbstgerecht gemeint, sondern lediglich unser vielleicht einziges wahres Privileg gegenüber dem Rest der Welt oder die Macht der Gewohnheit. Außerdem können wir gar nicht anders. Die Abschaffung der Polizeistunde galt ja der Ankurbelung der Tourismusbranche, nicht uns. Als die Sperrstunde vor 50 Jahren vom US-General Howley aufgehoben worden war, ersann die damalige Leiterin des West-Berliner Verkehrsamtes den berühmten Satz: „Berlin ist eine Reise wert.“ Man hatte wenig für Nichtberliner zu bieten in der zerbombten Stadt, außer daß man hier die Nächte durchzechen konnte. Das machte sich bezahlt, bis heute noch. Später kam noch die Mauer als Touri-Event dazu. Und mal ehrlich: Sind wir Berliner da hingegangen? Wir haben sie mitgenommen, wie die offenen Kneipen eben auch. Mehr cool als engagiert.

Schließlich gibt es noch ein Indiz für unsere emotionslose Haltung und die Einsicht, das Ganze habe nichts mit uns zu tun. Der damalige Chef des Gaststättenverbandes, Heinz Zellermayer, sieht noch heute die Chose als Kampfansage an die Sowjets. Weil im russischen Sektor die Kneipen immer eine Stunde länger geöffnet hatten als in den drei anderen Sektoren, habe er, quasi als Wettbewerb der Systeme, die Aufhebung der Sperrstunde 1949 gefordert, erinnert sich der 83jährige. Mit dem Vorstoß sei er zunächst abgeblitzt beim britischen Kommandanten. Der hatte wohl die rigiden Schließzeiten der britischen Metropole London vor Augen. Doch mit Hilfe US-Howleys gelang der Coup schließlich doch noch. Übrigens: Die beiden Wiener haben im Maxwell durchgemacht und Wien gepriesen.

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