Betr.: Nach dem Kosovo-Krieg

Was noch nicht geschrieben ist und womöglich nie geschrieben werden kann: e ine Semiologie des Krieges. Wer sie zu verfassen unternähme, spielte vermutlich nicht allein mit den Resten seiner moralischen Integrität, sondern auch mit denen seiner geistigen Gesundheit. Denn wenn es eine wiederkehrende Gestalt, eine Dramaturgie, eine Ästhetik des Krieges gibt, die hinter dem konkreten historischen Geschehen mit all seinen Widersprüchen, Lügen und Zufälligkeiten lauert, müßte die Hoffnung auf den Frieden ebenso wie die auf den zivilisatorischen Fortschritt gegen Null gehen. Wenn wir den Krieg nicht mehr als Unfall der Geschichte, sondern als eine „Sprache“ begreifen, die sich immer wieder in einem Gesprochenen realisiert und verändert, erhält er ebenjene Attribute des Ewigen, gar des „Natürlichen“, die die Aufklärung ihm zu entreißen antrat.

Und doch ist es nicht zu übersehen: Auch der Krieg, der sich als moralischer zu verstehen anbietet, enthält jene rhetorischen Figuren, jene Zeichen, jene Mythen, die sich als wiederkehrende Sprachpartikel zu erkennen geben: die Humanisierung des eigenen Vorgehens und die Entmenschung des Gegners, die Sexualisierung der Diskurse, die Dialektik zwischen Orbitalisierung und Territorialisierung, die „schimmernde Wehr“ und das Grauen der Zerstückelung, die Personalisierung des Bösen, und am Ende: den Sieg, der sich als Befreiung inszeniert. Das Gesprochene des moralischen Krieges wird freilich denkbar unklar: Haben wir Krieg gegen ein Volk geführt – gegen „die“ Serben, wie es sich mit zunehmender Dauer des Krieges in unserer Rhetorik einschliff? Haben wir Krieg gegen einen einzigen Mann geführt – Miloevic, den „Balkan-Hitler“? Oder haben wir Krieg gegen eine Idee geführt – das „Ausspielen der nationalen Karte“, die „ethnische Säuberung“? Wir hätten diesen Krieg gerne ohne Opfer und ohne Feinde geführt, nicht so sehr gegen jemanden, sondern für jemanden: die Wiedergeburt des Krieges als „humanitäre Aktion“. Aber mußte sich nicht die Sprache des Krieges gegen diese Transformation durchsetzen?

Der Krieg ist, so sagt man, ohne ganz daran zu glauben, zu Ende. Das Bild zerfällt in die beiden Legitimationen: Die Verbrechen des Gegners werden offenbar, und die Befreiten jubeln den Befreiern zu, in jenen Gesten, die wir seit Urzeiten kennen – die gereckten Arme, die Blumen, das Spalier, das sich für die lang erwarteten Befreier bildet. Austausch der Zeichen, die das kriegerische Geschehen heiligen: Victory und Peace. Welch ketzerische Idee, in dieser mehr oder minder spontanen Inszenierung von Freude und Erlösung könne womöglich nicht viel weniger Barbarei und Atavismus stekken als im Krieg selbst und dem, was ihm voranging.

Aber nicht nur auf eine „allgemeine“ Sprache des Krieges ist zumindest die Bildproduktion des konkreten Geschehens bezogen, jeder Krieg scheint zugleich auch so etwas wie eine historische Übermalungsaktion. Wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, den Gegner in diesem Krieg als Folie über die eigenen historischen Verbrechen zu legen, während der Krieg als Initiationsritus für eine sogenannte neue Mitte in unserer Gesellschaft erscheinen mußte, die sich aus einstmals eher widersprüchlichen Impulsen formiert.

Die hochsymbolischen Bilder von der Begrüßung der Befreier ähneln in frappierender Weise den Bildern unserer eigenen Befreiung im Zweiten Weltkrieg. Diese Bilder waren uns immer ein wenig verdächtig. Sie enthielten soviel Scham und Schuld, soviel Verstellung und die Ahnung einer verborgenen Obszönität. Durch den Blickwechsel scheint aller Zweifel fortgewischt. Es wird „natürlich“, nicht nur, weil wir für dieses Mal endlich auf der richtigen Seite stehen.

In Jugoslawien, so hat man gesagt, sei der Zweite Weltkrieg nie beendet worden. Dieses Bild hat eine blinde Stelle. War er denn bei uns beendet? Die bizarre Sehnsucht, zu einer „normalen Nation“ zu werden, mußte sich ausgerechnet im Krieg gegen einen „verrückten Nationalisten“ erfüllen. Die Zeichen und Blumen der Befreiten im Kosovo beenden nicht die Kriege im Balkan. Sie wollen die Kriege unserer Erinnerungen beenden.

Georg Seeßlen