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Shake, Rattle and Poll

An Kandidaten war kein Mangel. Die Trommel wurde kräftig gerührt. Mit der Wahl von Simon Rattle zum neuen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker fiel Mittwoch abend die Entscheidung für den Mittelweg – vielleicht den goldenen  ■   Von Frieder Reininghaus

Es war eine gründliche und gute Wahl. Das Berliner Philharmonische Orchester hat, wie es von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert an die Regel war, seine neue Galionsfigur in aller Ruhe ausgesucht und nach dem geltenden Selbstbestimmungsmodell auf den Schild gehoben: Sir Simon Rattle, der inzwischen 44 Jahre alte Wunderjüngling aus Liverpool, wird im Jahr 2002 die Leitungsfunktion von Claudio Abbado übernehmen, der altersbedingt ausscheidet. „Mit großer Mehrheit“ setzte sich Rattle im Laufe der Findungsbemühungen gegen die anderen Favoriten durch: gegen den bei Teilen des Berliner Konzert- und Opern-Publikums zum Liebling avancierten Daniel Barenboim und gegen den gleichfalls bereits an einem Berliner Opernhaus tätigen Christian Thielemann. An Kandidaten war, wie allemal, kein Mangel, denn die bestens ausgerüstete und durchtrainierte Truppe im Tiergarten ist Weltspitze: auch Lorin Maazel, derzeit in München engagiert, wäre als Chef der Philharmoniker denkbar gewesen oder Seiji Ozawa, der (als erster Gastdirigent) die Wiener Philharmoniker derzeit wieder zu Spitzenleistungen motiviert – zum Beispiel am Dienstag mit einer frühen Fassung von Anton Bruckners Zweiter Symphonie im Festspielhaus Baden-Baden. Auch hätten sich die Philharmoniker, deren Mannschaft durch Claudio Abbado deutlich verjüngt wurde, für einen Vorreiter der Musik des 20. Jahrhunderts entscheiden können – aber sie wählten einen Mittelweg. Vielleicht den goldenen.

Denn gerade auch im Hinblick auf die breitest mögliche Akzeptanz bei einem sich zwangsläufig verjüngenden, freilich nach wie vor von starken ästhetischen Gravitationskräften gebremsten Publikum mag Simon Rattle erste Wahl sein. Der quirlige und mit rascher Auffassungsgabe bedachte Musiker, Jahrgang 1955, besuchte die Grundschule, als die Beatles zu Weltruhm avancierten und damit auch die Industriestadt nobilitierten, aus der sie kamen. Von daher also wehte der frische Wind. Als Simon mit jugendlicher Unbekümmertheit beim Bournemouth Symphonie Orchestra begann und, gerade 20jährig, bei gelegentlichen Gastdirigaten in London die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen begann, wirkte das wie der Anbruch einer neuen Ära in einem nach wie vor von feudalen Strukturen geprägten Kultursektor: Da artikulierte sich mit „offenem Ton“ der Wille, so manches Alte noch einmal frisch und neu zu machen – und dazu, wohldosiert, musikalisch Neues zu promovieren. Simon Rattle strahlt das Glück des Kronprinzen aus, dem das ungeteilte Wohlwollen der Untertanen entgegenschlägt. Behutsam ging Rattle zu Werke. Er ließ sich nicht verschleißen (und wußte, wie leicht dies geschehen kann). Als dem 24jährigen in Nachfolge von Carlo Maria Giulini der Posten eines ersten Dirigenten des Los Angeles Philharmonic Orchestra angeboten wurde, eines der sieben Spitzenorchester Amerikas, schlug er aus; er hielt sich noch für zu unerfahren. Er blieb in der britischen Provinz und vergleichsweise seßhaft, konzentrierte sich auf die Arbeit mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, das durch ihn einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen Höhenflug erlebte. Ohne Technik, die zunehmend mit Erfahrung sich verbindet, geht dergleichen nicht; wohl auch nicht ohne das ansonsten allzusehr überstrapazierte Charisma.

Rattle entwickelte eine glückliche Hand bei der Zusammenstellung seiner Programme. Daß er sich früher als andere für den in den achtziger Jahren wiederzuentdeckenden deutsch-britischen Komponisten Berthold Goldschmidt engagierte, für den ebenfalls weitgehend aus der Rezeptionsgeschichte entschwundenen Karo Szymanowski oder die russische Komponistin Sofia Gubaidulina, machte ihn denen sympathisch, die nicht immer nur Mozart und Brahms hören wollen. Doch Rattle sorgt eben auch für eine hinreichende Dosis an Haydn und Mahler, arbeitete sich gründlich an Beethoven heran und sammelte Erfahrungen als Operndirigent. In Amsterdam wollte 1993 Debussys „Pelléas et Mélisande“ noch nicht so richtig blühen, doch drei Jahre später, am ThéÛtre ChÛtelet in Paris, sorgte er mit Sinnlichkeit und Sentiment für eine hochachtbare Janácek-Diktion, eine farbenkräftige „Jenufa“-Musik. Die Berliner Philharmoniker hoffen, daß Rattle den Weg der mehr oder minder behutsamen Bereicherung durch Unkonventionelles weiter geht. In das, was auf altmodische Weise „geistige Durchdringung“ von Musik genannt wird, mag der Maestro, der auf Genie-Attitüden verzichtet, mit den Jahren noch hineinwachsen. Eine respektvoll erschütterte Öffentlichkeit und die besonders hellsichtige Berliner Musikkritik werden die Zuwachsraten dankbar entgegennehmen und verkünden.

Eine gute Wahl also, gewiß. Eine Sensation war und ist sie nicht. Die wäre zustande gekommen, wenn mit Ingo Metzmacher ein Protagonist der Neuen Musik nach Berlin berufen worden wäre: einer, der bei aller Fertigkeit im Umgang mit dem Historischen entschieden der Zukunft zugewandt ist.

Rattle strahlt das Glück des Kronprinzen aus, dem das Wohlwollen der Untertanen entgegenschlägt

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