piwik no script img

„Selbstkritik ist sicher angebracht“

■ Der innenpolitische Sprecher der bündnisgrünen Fraktion im Bundestag, Cem Özdemir, über das Todesurteil gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan

taz: Das Urteil ist wie erwartet ausgefallen. Europäische Politiker fordern nun von der Türkei, es wieder aufzuheben. Welchen Einfluß hat Europa überhaupt in Ankara?

Cem Özdemir: Der europäische Einfluß ist seit dem EU-Gipfel von Luxemburg Ende 1997 eindeutig zurückgegangen. Damals hat man der Türkei den Stuhl vor die Tür gestellt. Aber der aktuelle Briefwechsel zwischen Schröder und dem türkischen Ministerpräsidenten Ecevit gibt ein wenig Anlaß zur Hoffnung. Darin hat die Türkei erstmals die Kopenhagen-Kriterien anerkannt, die man erfüllen muß, um Mitglied der EU zu werden. Jetzt ist die Frage, ob das Todesurteil auch vollstreckt wird. Da gibt es nicht ganz unbegründete Hoffnung, daß die Verantwortlichen in Ankara erkannt haben, daß eine Vollstreckung in niemandes Interesse liegen kann, außer vielleicht in deren, die einen Märtyrer schaffen wollen. Ich habe den Eindruck, daß es die auch in der kurdischen Bewegung gibt.

Ist es nicht wohlfeil, jetzt mit der Tür nach Europa zu winken, nachdem man sie jahrelang für die Türkei zugehalten hat?

Da ist sicher Selbstkritik angesagt. Der Gipfel von Luxemburg war, im nachhinein gesehen, ein Fehler. Dadurch haben wir unsere Einflußmöglichkeiten auf Ankara selbstverschuldet verringert.

Können Sie sich einen „Handel“ vorstellen: EU-Mitgliedschaft gegen Öcalans Leben?

Nein, nicht gegen Öcalans Leben. Das wäre nicht angemessen. Aber im Tausch gegen eine Demokratisierung und gegen eine Durchsetzung der Menschenrechte. In diesem Rahmen spielt die Abschaffung der Todesstrafe eine zentrale Rolle. Ich warne davor, aus westlicher Sicht auf eine „Lex Öcalan“ zu drängen. Das ist die beste Methode, ihn an den Galgen zu bringen. Die türkischen Falken erwarten nichts anderes, als daß der Westen jetzt Druck macht. Dann werden sie sagen: Jetzt erst recht. Deshalb ist jetzt stille Diplomatie angebracht.

Deutschland hätte den ganzen Schlamassel verhindern können, wenn die Bundesregierung Ende vergangenen Jahres Öcalans Auslieferung aus Italien beantragt hätte. Ihre Partei hat den Verzicht darauf mitgetragen.

Es waren nicht nur wir, die damals kein Interesse hatten, Öcalan aufzunehmen. Leider war die europäische Menschenrechtsgerichtsbarkeit noch nicht soweit, daß Öcalan nach Den Haag gebracht und dort vor ein Gericht gestellt werden konnte. Ein Grund mehr, daß wir uns in diesem Bereich beeilen, damit zukünftig Instutionen da sind, die in solchen Fällen reagieren können.

Öcalan hilft das nicht mehr. In Deutschland wäre er zumindest nicht zum Tode verurteilt worden.

Richtig. Aber auf der anderen Seite wären wir damit das Risiko eingegangen, hier bürgerkriegsähnliche Verhältnisse zu haben. Da muß sich die PKK an die eigene Nase fassen. Sie sah sich nicht in der Lage, uns zu garantieren, daß sich hier zivilisiert verhalten wird. Die PKK trägt Mitschuld, daß Öcalan in der Türkei ist.

Interview: Thomas Dreger

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen