: Bier mit Angst schmeckt einfach nicht
Der Bombenanschlag auf eine Kneipe erschüttert die Kleinstadt Merseburg. Alle fragen sich: Wer ist der nächste? ■ Von Nick Reimer
Merseburg (taz) – Der erste Gast des Tages fragt: „Haste schon im Blumenkübel nachgesehen?“ Michael Götze, Wirt des Merseburger Restaurants „Am Entenplan“, findet das überhaupt nicht witzig. Sollte es auch gar nicht sein. Der Gast meint die Frage ernst. Seit dem Bombenanschlag auf die Bierbar „Desperado“ am Sonntag blühen in der anhaltinischen Kleinstadt die wildesten Phantasien über Täter und Motiv. Unbedingt verdächtig sind Blumenkübel. In einem solchen war die Bombe versteckt.
Das Stammpublikum des „Entenplan“ diskutiert hauptsächlich zwei Fragen: „Wer war das Schwein?“ und „Wer ist der nächste?“
Die Aussicht, auf den eigenen Beinen in die Kneipe zu gehen, aber nicht mehr – wenigstens wankend – raus zu können, steigert nicht gerade den Durst. Am Sonntag waren einer 23jährigen Merseburgerin beide Unterschenkel zerfetzt worden – und mußten amputiert werden. „Mensch“, sagt einer, „Merseburg ist nicht Belfast oder L.A.“ – „Vielleicht doch?“ Der Wirt ist sich jedenfalls sicher: „Das geht jetzt hier erst richtig los. Schließlich wehrt sich die Gang, die gemeint war.“
Natürlich war Sachsen-Anhalts Innenminister Manfred Püchel (SPD) sofort zum Tatort geeilt. Nachdem der Anblick der völlig demolierten Kneipe „Desperado“ ein bißchen verdaut war, sagte der Innenminister bedeutend: „Die Rotlichtszene.“ In Sachsen-Anhalt, so Püschel, gebe es nur wenige zugelassene Puffs. Entsprechend groß sei der Graubereich und – wie man sieht – der Verdrängungskrieg. Ein LKA-Mann wartete im ZDF mit der Erkenntnis auf, daß der Sprengstoff aus Militärbeständen stammen muß. Und die lokale Presse schreibt: Der Wirt hatte viele Feinde.
Merseburgs Polizeisprecher Siegfried Koch staunt über das alles. Bestätigen kann er nichts davon. Koch sagt tapfer: „Wir ermitteln in alle Richtungen.“ Was soll er auch anderes tun? Außer ein paar ergebnislosen Durchsuchungen gibt es auch am vierten Ermittlungstag nichts Konkretes zu vermelden. Die gebildete Fahndungskommission arbeite „auf Hochtouren“.
„Kommissionen bilden“, schimpft „Entenplan“-Wirt Götze, „ist die einzige Stärke, die die Polizei bei uns hat.“ Der Stammtisch brummt zustimmend. Götze muß es schließlich wissen. Binnen zwölf Monaten war seine Kneipe zweimal Ziel eines Anschlages. Der erste ging vor genau einem Jahr als das „Buttersäureattentat“ durch die lokalen Medien. Der zweite passierte einen Tag vor Silvester. „Zum Glück wurde das Feuer gegen Mitternacht gelegt“, sagt Götze. Soll heißen: Die Nachbarn bemerkten es sogleich. Das wäre um drei Uhr nachts wahrscheinlich anders gewesen.
Es zeigt sich, daß der Wirt nicht der einzige Experte ist. Einen Bandenkrieg um Kneipen und Cafés vermutet ein Stammgast. Seine Indizien: Im Januar ein Molotowcocktail in die Bowlingbahn, im Februar ein Handgranatenanschlag auf das „Krähennest“. 20 Stunden vor Neueröffnung ging die Diskothek „Pegasus“ im benachbarten Querfurt in Flammen auf. Im Oktober mißlang ein Brandanschlag auf einen Italiener. „Da geht es ganz knallhart um Schutzgeld“, weiß der Experte. Der Wirt guckt ungläubig. „Also bei mir war deshalb noch nie jemand.“ Und er würde auch nicht zahlen. „Früher hätte es so was alles nicht gegeben.“ Oder kann sich jemand an ein Bombenattentat in der DDR erinnern?
„Was ist denn mit der Biker-Clique?“ fragt einer aus der Runde. Eine Woche vor dem Bombenattentat stürmten etwa zehn vermummte Gestalten das Hauptquartier der „Vampirs“. Ziemlich übel ist den Bikern mitgespielt worden. Nicht nur, daß einige von dem Überfallkommando mit Baseballschlägern krankenhausreif geprügelt wurden. Mit einer Schrotflinte schossen die Angreifer wild um sich, getroffen wurde glücklicherweise nur der Zigarettenautomat. Die Rocker sagten damals der Polizei: „Wir kennen die Täter. Das regeln wir schon selber.“
„Vielleicht mit einer Bombe?“ – „Klingt zumindest einleuchtend“, erklärt der Stammtisch. Und in der Zeitung stand so was ja auch schon. „Na ja“, sagt einer, „ihr wißt doch, die schreiben viel.“ Der Wirt zapft eine neue Runde.
Konkurrenten? Drogen? Schutzgeld? Keiner weiß es. Und dann ist da noch die Geburtstagsfeier von Ingo B., dem Betreiber des „Desperado“. „Vielleicht war das Attentat einfach nur Pech“, mutmaßt einer im „Entenplan“. „Da draußen ist doch normalerweise um diese Zeit tote Hose.“ Das „Desperado“ ist sonntags um 1.30 Uhr, zur Tatzeit, sonst geschlossen. „Vielleicht sollte die Bombe bloß ein bißchen Angst einjagen?“ – „Ach nein, das wird dem Betreiber schon gegolten haben“, einigt sich der Stammtisch.
Am Sonntag feierte Ingo B., ein kurzhaariger Hüne, dem man die gewaltige Anzahl seiner Fitneßstudiostunden ansieht, seinen 25. Geburtstag in seiner Kneipe. „Nebenbei betreibt dieser Ingo doch auch noch ein Security-Agentur. Eine ziemlich zwielichtige Type.“ – „Glaubt ihr, daß die Bullen hier noch Durchblick haben? Wir werden wohl nie erfahren, wer's war“, sagt einer und verlangt die Rechnung. „Das trifft sich gut“, sagen die anderen, „wir wollten auch gerade.“ „Ein Gutes hat der Anschlag jedenfalls“, sagt einer noch. „Ganz Deutschland weiß jetzt, wo Merseburg liegt.“
Es ist gegen acht, das Restaurant leer. „Eigentlich kann ich jetzt zumachen“, sagt „Entenplan“-Wirt Götze. „Bier mit Angst schmeckt einfach nicht.“
Der Wirt ist sich sicher: „Das geht jetzt erst richtig los. Schließlich wird sich die Gang wehren, die gemeint war.“
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