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Das Ende der Nabelschau

2000 und eine Hausaufgabe: Eine Berliner Außenpolitik müßte das Versprechen der „europäischen Stadt“ endlich einlösen. Letzter Teil der taz-Serie über Berlin, zehn Jahre nach Mauerfall „Berlin revisited“. Ein Ausblick  ■   von Hans Wolfgang Hoffmann

Zehn Jahre lang wurde mit der Vision einer „europäischen Stadt“ in Berlin Politik gemacht, die sich vor allem in einem rastlosen Bauboom innerhalb seiner Grenzen ausdrückte. Sie entfesselte die Investitionssumme von insgesamt weit über hundert Milliarden Mark, die in Berlins märkischen Sand gesetzt wurde. Sie formte daraus Stadttechnik, Verkehrsinfrastruktur und Gebäude von Privaten Investoren im Wert von je dreißig Milliarden Mark und das Hauptstadtprojekt.

Noch bevor das Vorhaben beendet ist, lange vor seiner Bewährungsprobe im städtischen Alltag,scheint es schon wieder entwertet. Offenbar gingen die Bauleistungen nicht mit jenem optimistisch prophezeiten Aufschwung zur Metropole einher, der Argument für alle Anstrengungen gewesen war. Alle Verheißung ist angesichts der überdurchschnittlichen Arbeitslosenzahl von 17 Prozent ein leeres Versprechen. Und daß Berlin jedes Jahr Menschenmassen verlassen, die der Einwohnerschaft mittlerer Kleinstädte entsprechen, sehen manche als Beleg dafür, daß „Stadt“ – ob europäisch oder nicht – ein Auslaufmodell sei. Ist Berlin am Ende?

Visionen haben keine Konjunktur mehr. Rhetorik und Handlungsabläufe der Stadt zeigen zunehmend depressive Züge. Daß mehr als eine Million Quadratmeter Büroflächen leerstehen, hat die privaten Investoren nicht motiviert, sie kreativer zu vermarkten. Es hat nur dazu geführt, daß keine weiteren Büroflächen entstehen.

Auch die politische Führung der Stadt geht in die Defensive: Stadtentwicklungssenator Peter Strieder spricht davon, daß Berliner Politik nun „städtischer“ werden müsse – als sei sie bislang etwas anderes gewesen.

Das wichtigste Bauvorhaben des Senats ist eine Mauer von Reihenbungalows, die die Stadtflüchtlinge auf städtischem Territorium halten soll. In einen nicht minder hochgehängten Projekt schreibt die Stadt neue Stellen für Sozialarbeiter aus, die sie Quartiersmanager nennt. Sie sollen helfen, gleichwertige Stadtteile zu erhalten, die nach dem Abzug der Mittelschicht ins soziale Abseits zu geraten drohen. Gegen diese Maßnahmen spricht freilich nicht nur, daß sie Geld kosten, das Berlin nicht hat. Ebensowenig kann sich die Kritik darin erschöpfen, daß sie nicht unbedingt erfolgversprechend sind. Das zeigt die Erfahrung in anderen Städten, die schon vor Jahrzehnten vergleichbare Maßnahmen ergriffen (Beispiel: Tilburg, Niederlande. Dort gelang dem seit einigen Legislaturperioden praktizierte Quartiersmanagement kaum, den Status quo zu bewahren). Wirklich irritierend aber ist: Diese Strategien wollen die Möglichkeiten, die die neunziger Jahre eröffnet haben, gar nicht mehr nutzen.

Dabei könnte die Bilanz ganz anders ausfallen. Der Architekturkritiker Gerwin Zohlen bemerkte kürzlich im Themenband zur Ausstellung Baubilanz „Berlin: offene Stadt“, daß mit den Anstrengungen der vergangenen zehn Jahre die Zukunft noch nicht gewonnen, sondern erst wieder möglich geworden sei. In der Tat kann man der städtischen Politik viel vorwerfen, nicht aber, daß sie sich nicht um die Stadt bemüht hätte. Die meisten ihrer inneren Probleme sind einer Lösung näher als vor zehn Jahren.

Tatsächlich deutet der Aktionismus, mit dem man in Berlin nun Phänome wie soziale Entmischung und Stadtflucht angehen will, auf den Kern des Problems: Man ist noch ganz in einem Stadtideal gefangen, dessen Lebenselixier gigantische Transfertöpfe und die Abwesenheit von Freizügigkeit sind. Sonst würde man nicht den flüchtigen Bürgern hinterhertrauern, sondern sich darauf konzentrieren, den Verlust durch Zuwanderung auszugleichen. Dafür wäre etwas nötig, was die Subventionspolis nie verlangt hat: die eigenen Qualitäten herauszustellen, und zwar besser als das die lokalpatrotistischen Marktschreier der „Partner für Berlin“ tun. Es reicht nicht, daß Marketingstrategen zielgruppenorientiert werben. Die ganze Stadt muß erkennen, daß die Potentiale zur Lösung ihrer Probleme, sei es Bevölkerungsschwund oder Wirtschaftsrezession, jenseits ihrer Grenzen liegen.

Viel zu lange hat Berlin nur auf seinen Nabel gestarrt. Die Chancen, die sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs jenseits des innerstädtischen Mauerstreifens auftaten, wurden allenfalls in Sonntagsreden beschworen, das Hauptstadtprojekt nur als städtebauliches Problem abgearbeitet. Die Stadt wendete gerade mal negative Effekte des Regierungsumzugs ab. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wie sie die positiven Auswirkungen nutzen könnte. Während Heerscharen von Maklern beschäftigt werden, um den Zuzüglern, Wohnungen, Grundstücke und Kitaplätze zu verschaffen, gibt es bis heute keine Agentur, die Berliner Dienstleistungsangebote den Institutionen des Bundes schmackhaft macht.

Ungelöst sind die Beziehungen zum Umland. Nach dem Scheitern der Länderehe wurden sie zwar in der Theorie durchexerziert (Leitbilder, in denen Berlin als „global city“, Brandenburg als Rentnerparadies oder regionaler Freizeitpark auftauchen). Doch scheitern die Empfehlungen der gemeinsamen Landesplanung in der Praxis oft an der Egozentrik lokaler Rathausgrößen. Letztlich wird man die ruinöse Konkurrenz nur in eine profitable Arbeitsteilung ummünzen können, indem man die Vereinigung wieder auf die Tagesordnung setzt.

Am wenigsten konnte Berlin bisher die Chancen nutzen, die sich in Osteuropa auftaten. Es hieß, die Stadt habe eine mit keiner anderen vergleichbare Ausgangsbasis, um zur Drehscheibe zwischen Ost und West zu werden. Doch offensichtlich zieht die geographische Lage allein nicht. Nicht nur, daß Metropolen wie Wien eine ähnlich gute Position haben. Es ist um die Wege gen Osten bei weitem nicht so bestellt, wie der Fleck, der auf der Europakarte so mittig erscheint, verheißt. Berliner, die in die benachbarten Hauptstädte des ehemaligen Ostblocks fliegen wollen, müssen Umwege über Frankfurt/Main in Kauf nehmen. Der Ausbau der Landwege im Rahmen der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, durch die Berlin dem Westen näher rückte, fand in Gegenrichtung keine Entsprechung. Das einzige Projekt von geopolitischer Relevanz, die Ostseeautobahn, wird 300 Kilometer nördlich an Berlin vorbeilaufen. Die Stadt müßte sich für eine schnelle, symbolträchtige Schienenverbindung Berlin – Warschau – Moskau einsetzen.

Auch davon, daß Berlin selbst Vereinigungslabor ist, hat die Stadt bisher zu wenig profitiert. In Berlin wurde mit Hilfe westdeutscher Transferleistungen viel Know-how zur Lösung von Problemen angehäuft, mit denen sich auch osteuropäische Städte herumschlagen. Doch in der Hauptstadt wartet man lieber darauf, daß sich Interessenten aus Osteuropa dieses Wissen abholen, statt es selbst nach Warschau, Prag oder Budapest zu tragen. Sinnvolle Ansätze gibt es. Zum Beispiel die vom Senat für Stadtentwicklung ausgerichtete Kongreßreihe „Städte mit Zukunft“. Die Art, wie die Vereinigung vollzogen wurde, schloß zudem gerade Menschen aus dem Prozeß aus, die vor der Wende Kontakt zu Osteuropa hatten. Dieses Humankapital an ostdeutscher Lebenserfahrung muß wieder wertgeschätzt werden.

Das Hauptproblem ist die Ignoranz gegenüber allem, was sich jenseits der Stadtgrenze abspielt, insbesondere östlich von ihr. Wer weiß schon genau, wo man in Polen romantische Ferien in Landschlössern verbringen kann, wo dort mit privatem Geld Autobahnen entstehen und welche Bewegungsfreiheit sie Berlin eröffnen? Damit sich Berlin zu einer wahrhaft „europäischen Stadt“ entwikkelt, werden viele persönliche Außenpolitiken nötig sein. Darüber hinaus braucht die Stadt an ihrer politischen Spitze Repräsentanten, deren Profil weniger dem von Baulöwen oder Sparkommissaren, sondern von Spitzendiplomaten entspricht. Fragt sich bloß, welcher der Kandidaten das passende Profil mitbringt.

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