Die Blütezeit der Ballsäle währte nur kurz

■ Zwischen 1927 und 1929 gegründet, gerieten die großen Vergnügungspaläste alsbald in den Strudel von Wirtschaftskrise und Diktatur. In der DDR erstanden die „Pläsierkasernen“ wieder auf

Als die Mauer fiel, dachten alle, jetzt kommen die Zwanziger wieder. Im Guten wie im Schlechten: Das Berliner Nachtleben sollte wiederaufblühen, der Verkehr auf dem Potsdamer Platz wieder tosen. An der Friedrichstraße imitierte ein ganzer Häuserblock die zackige Architektur von einst. Und manche fürchteten, der Druck der Straße werde die „Berliner Republik“ in ein ähnliches Chaos stürzen wie ihre Weimarer Vorgängerin.

Nichts davon ist eingetroffen. Der Potsdamer Platz ist nichts als eine zugige Kreuzung, der allenfalls eine biedere Shopping-Mall im Hinterland ein wenig Leben einhaucht. Das neue Berlin sucht sich seine eigenen Wege. Und pünktlich zum Umzug von Parlament und Regierung hat ein Präsident sein Amt angetreten, der als Garant dafür gilt, daß Berlin sein wird wie Bonn.

Trotzdem gibt es offenbar Leute, die glauben, der Mythos der Zwanziger ließe sich noch immer zu Geld machen. Solche Leute eröffnen Ballhäuser.

Tatsächlich war das Berlin der Weimarer Zeit eine Hochburg des Tanzvergnügens. Insgesamt 899 Lokale besaßen im Jahr 1930 die „allgemeine Tanzerlaubnis“. Der „neue Westen“ rund um die Gedächtniskirche galt als Inbegriff weltstädtischer Vergnügungskultur, während die Friedrichstraße in den Zwanzigern einen eher verstaubten Ruf genoß. Allenfalls das Tanzlokal mit dem schönen Namen „Sommerlatte“ konnte mit seinen „Negertänzern und Negertänzerinnen“ auch prominentes Publikum anlocken. Als Deutschlands größter Vergnügungspalast galt das „Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz. Die Intererieurs, im Stil verschiedener Länder ausgestaltet, versprachen den Besuchern eine „billige Erholungsreise“. Und, natürlich, eine diskrete Kontaktaufnahme von Tisch zu Tisch: Flirten per Telefon oder Chatten per Rohrpost.

Der Kultursoziologe Siegfried Kracauer führte die Blüte dieser „Pläsierkasernen“, die zwischen 1927 und 1929 wie die Pilze aus dem Boden schossen, auf das gesteigerte Bedürfnis „der Masse“ nach Vergnügung und „Zerstreuung“ zurück, auf den Versuch, unbefriedigende Erfahrungen im Zusammenhang veränderter Bedingungen in der Arbeitswelt und der Sozialstruktur zu kompensieren.

Jedenfalls versetzte die Wirtschaftskrise den Ballhäusern keineswegs den Todesstoß. Je mehr es zu verdrängen gab, desto mehr drängte es die BerlinerInnen zum Vergnügen – sofern sie es sich noch leisten konnten. Die Veranstalter setzten dem allgemeinen „Personalabbau“ den „Preisabbau“ entgegen. Vielfach verzichteten sie auf das Eintrittsgeld oder auf den üblichen „Weinzwang“.

Die Olympischen Spiele verschafften den inzwischen „arisierten“ Etablissements 1936 noch einmal einen kurzen Aufschwung, bevor ihr Betrieb bei Kriegsbeginn eingeschränkt und 1942 ganz verboten wurde.

Nach dem Krieg knüpften nur wenige Ballhäuser an diese Tradition wieder an, darunter das „Café Keese“ in Charlottenburg und das Ballhaus Berlin in der Chausseestraße in Mitte.

Eine Institution war zu DDR-Zeiten aber vor allem „Clärchens Ballhaus“ in der Auguststraße. Heute wirkt es im Trubel der schicken Spandauer Vorstadt ein wenig verloren, und voll ist es nur samstags. Vor dem Fall der Mauer war das anders. An fünf Tagen in der Woche öffnete „Clärchens Ballhaus“ den einsamen Herzen seine Pforten. Der Eintritt kostete 2 Mark 10, das Bier 48 Pfennig.

Die DDR konservierte das proletarisch-kleinbürgerliche Milieu der Vorkriegszeit, während es sich im Westen allmählich im Wirtschaftswunder auflöste und von den tonangebenden Intellektuellen für ästhetisch rückständig erklärt wurde. Im Osten dagegen propagierten auch die Herrschenden eine kleinbürgerliche Ästhetik des Plüschigen und Anzüglichen, die sich nicht zuletzt in der staatlichen Alimentierung der Operettenbühnen in Berlin, Leipzig und Dresden wie auch des Friedrichstadtpalasts manifestierte – Institutionen, zu denen es im Westen kein Pendant gab.

Doch das einschlägige Publikum hat sich im vergangenen Jahrzehnt weitgehend vor den heimischen Fernseher zurückgezogen. In den Ballhäusern, die in den letzten Jahren neu eröffnet haben, geht es mehr um subtile Tanzkunst als um plumpe Anmache. Auch das neue „Casanova“ in Charlottenburg wird trotz großen Medienrummels vom Publikum noch nicht gerade gestürmt. Aber die Neunziger sind eben auch die Neunziger – und nicht die vermeintlich goldenen Zwanziger. Zum Glück. rab