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Bürgerkrieg

Eine Erzählung  ■ von Saied Sharifi

Als der Bürgerkrieg begann und praktisch das ganze Land erfaßte, mußten alle an die Front, für die Verteidigung der Revolution und gegen die Konterrevolution, vor allem in der Nordzone und im Urwald an der Atlantikküste. Krieg über alles hieß seinerzeit die Parole, gegen die, die unser Land, unsere Freiheit und Souveränität bedrohen – von den USA unterstützte Banden, die Contras; es gab Schreckensmeldungen, kein Tag verging, an dem nicht Dutzende von Toten, Soldaten und Zivilisten, in die Stadt gebracht wurden. Fast jede Familie hatte einen Toten zu beklagen.

Ich war auf einer der vielen Veranstaltungen gegen den Krieg, um mich halbwegs über den Stand der Dinge zu informieren. Ich sah ein Plakat mit vielen Fotos, genau gesagt, mit sechzehn Fotos in zwei Reihen. Das erste Foto: ein Bauer in einem in der Sonne gebleichten Hemd. Um ihn herum mehrere Männer in Uniform, der alte Mann kniet auf dem Boden und krallt seine Finger in die Erde. Auf dem folgenden Foto sieht man ein längliches Loch. Andere Fotos: Der Bauer legt sich in die ausgehobene Grube; einer der Militärs hockt auf den Knien über dem Loch; in einer Hand hält er ein Messer. Weiter: Das Messer durchschneidet die Kehle des Bauern. Wo Messer und Hals sich berühren, spritzt Blut; das Gesicht des Bauern ist schmerzverzerrt, seine Hände greifen nach den kräftigen Armen des Militärs. Seine Knie sind leicht gebeugt; sein Gesicht ist regungslos. Auf dem nächsten Foto schüttet einer der Militärs die Grube mit dem leblosen Körper des Bauern zu.

Ich beschloß, in den Krieg zu ziehen. Ich wollte ein Guerillero sein, so wie Che Guevara einer gewesen war; für die Freiheit unseres Landes kämpfen und sterben. Mit dieser Sehnsucht war ich nicht allein. Wir wurden im Schnellverfahren ausgebildet und an die Front geschickt. Über die Zone, in der wir kämpfen sollten, wußten wir praktisch nichts. Wir dachten, wir würden dort affenähnliche Menschen treffen, unsere Feinde, die unser Land und unsere Freiheit bedrohen. Während der Fahrt sangen wir kämpferische Lieder, spielten Gitarre und dachten an unsere Lieben. Es war eine schöne Zeit, die sich jedoch ziemlich schnell in eine Zeit der Angst verwandelte, als wir in der kritischen Zone ankamen.

Viele Monate waren vergangen. Es gab widersprüchliche Berichte über den Stand der Kämpfe, und unsere Einsatzgebiete verlagerten sich zunehmend ins Waldesinnere. Wir brauchten manchmal zwei bis drei Tagesmärsche, um dort anzukommen. Die Commandantes in Managua befahlen: Durchhalten! Man sprach immer vom bevorstehenden Sieg, und ich fühlte mich zunehmend als Figürchen in einem Kriegsspiel und hatte immer weniger Willen, für sie zu kämpfen. Nicht wenige desertierten zur anderen Seite oder brachten sich um.

Ich funktionierte nur noch nach außen, bewegte mich wie im Traum und folgte den vor mir laufenden Kameraden. Der Hunger, der Durst, die juckenden und schmerzenden Stiche der Moskitos, die eintönigen Märsche durch den dampfenden Urwald bestimmten meine Tage, und ich vergaß alles, selbst die Namen der Wochentage, die Uhrzeit, den Monat. Tagelang regnete es. Ein Gefühl, als würde ein Ozean tröpfchenweise auf die Erde gekippt, und du stehst mittendrin, und die Regentropfen sind wie kleine Bomben, die auf deinem Kopf explodieren. Es gab nur noch Regen, Regen und wieder Regen.

Ich setzte mich ab. Ließ mich zurückfallen, vergrößerte den Abstand von der Gruppe, schwenkte ab nach rechts und dachte nur noch: Nun immer geradeaus. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn ich Pech hätte. Nach zwei Tagen gelangte ich an einen Fluß. Die Sonne war bereits kurz davor zu verschwinden, als ich das Traben von zwei Pferden und das Gemurmel von Kinderstimmen hörte. Ich stieg auf einen Baum und sah zwei Jungen auf ungesattelten Pferden. Die zwei Jungen mit ihrer zarten, kaffeebraunen Haut auf dem Rükken ihrer Pferde kamen wir vor wie zwei rettende Engel. Ich beeilte mich, ihnen zu folgen ...

Bald hörte ich Hunde bellen, meine Schritte wurden wie von selbst schneller. Zwischen den letzten Bäumen, die das Dorf und den Dschungel voneinander trennen, liefen ein paar Hunde auf mich zu. Ich versuchte sie mir mit dem Stock vom Leib zu halten. Zwei Männer kamen auf mich zu. Sofort hob ich die Arme als Zeichen meiner guten Absichten und hielt ihnen mein Gewehr hin.

Ich versuchte ihnen meine Situation zu erklären. Sie stellen mir einige Fragen. Dann gingen wir zur Mitte des Dorfes, das nur aus einigen wenigen Häusern bestand. Wir betraten ein kleines Haus, das leer stand, in dem nichts war außer Staub. Irgendwann brachte einer der Männer einen Teller Reis mit Bohnen, eine gekochte Banane und dazu einen Becher süßen und lauwarmen Kaffee. Ich aß und antwortete noch immer auf ihre Fragen. Sie erkundigten sich nach dem Stand der Kämpfe und erzählten, daß schon seit einiger Zeit Ruhe bei ihnen sei. Zu Beginn der Kämpfe aber seien die Contras hiergewesen und hätten viele Bauern verschleppt.

Sie sagten mir: Bleibe eine Zeit hier; wir helfen dir weiter; lange wirst du es nicht aushalten, denn für einen Stadtmenschen ist das Leben hier sehr schwer. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich einschlief. Ich wälzte mich auf dem Boden und spürte jedes Brett unter mir; die Müdigkeit perlte ab von mir wie Wasser, mein ganzer Körper war Schmerz. Dann hörte ich das rhythmische Klopfen eines Holzhakens. Ich schaute zur Decke und sah das erste Licht des neuen Tages durch die schmalen Ritzen des Zimmers.

Eine alte Frau nahm größere Stücke Holz aus einem Haufen, zerhackte sie mit der Axt und brach die kleinen Äste mit bloßen Händen in zwei oder drei Teile. Die Holzstücke stellte sie sorgfältig, mit der Spitze nach oben – wie eine Pyramide – zusammen. Sie legte ein rauchendes Holzscheit unter den Stoß des frisch geschlagenen Holzes, kniete sich nieder und pustete kräftig in die Glut. Ich lag da, und der Duft von frisch gebackenem Kokusnußbrot verbreitete sich in der Luft; ich war verrückt nach einem Biß von diesem Brot. Ich ging die Treppe hinunter und sagte guten Morgen. Sie betrachtete mich genau und nickte. So vergingen einige Momente. Komm, sagte sie zu mir, nimm Platz; und ihr Blick zeigte auf die Treppe zum Haus. Ich blickte zum Backofen und sagte: Es riecht phantastisch. Sie schmunzelte. Ich hörte hinter dem Haus Blätter rascheln und kleine Äste zerbrechen unter den Schritten eines Mannes; er verschwand im Haus. Sie unterhielt sich mit ihrem Mann in ihrer Sprache, die ich nicht verstand. Sie gab mir eine Tasse süßen Kaffees und ein Stück Brot, ohne ein Wort zu sagen. Sie rief etwas in Richtung des offenen Fensters. Ich folgte ihrem Blick und sah im Fensterrahmen einen Mann mit nacktem Oberkörper, seine Arme auf das Fensterbrett gestützt. Er schaute mich an, und ich schaute zu ihm hinauf.

Seine Haut war schwarz wie die Nacht, seine Wangen, da, wo das Licht auf sie fiel, glänzten. Das Weiße in seinen Augen war leicht bräunlich. Reglos und nachdenklich stand er da. Als ich in diese Augen schaute, packte mich plötzlich ein bis dahin noch nie dagewesenes Gefühl. Ich verlor jede Kontrolle über mich, war diesen Augen vollkommen ausgeliefert und wurde in sie hineingezogen. Ich stand da und schaute mit meinem ganzen Körper in seine Augen, bis in die Tiefe, die mich in sich saugte, und ich versank in der Unendlichkeit seines Blicks. Ich bestand nur noch aus Augen und verschmolz mit der Atmosphäre seines Seins. Unzählige Kreise breiteten sich von seinem Zentrum wellenförmig aus. Ich sah und las und verschlang die Botschaft seines Seins, und zum erstenmal erlebte ich die Natürlichkeit der Sprache des Körpers als elementarste Form der Verständigung. Er ließ mich in sein Universum eindringen, und meine Emotionen und Motionen öffneten sich den seinen; unser Bewußtsein und unsere Körperlichkeit verschmolzen miteinander. Ich fand meinen Körper leer und völlig fremd; das war nicht mehr mein Körper, ich hatte ihn nicht mehr nötig; ich war dort angelangt, wo man ihn nicht mehr braucht ...

Die Zeit verging, und die Sonne schaute uns zu. Einige Tage später nahm er mich mit, ohne mir zu sagen, wohin. Wir gelangten an einen Ort mit wellblechgedeckten Häusern, über eine weite Fläche verstreut, unweit einer Ebene, mit einer Landebahn für kleine Flugzeuge, die von einer bewaffneten Person auf einem wackligen Turm bewacht wurde. Ich sah viele große Löcher im Boden. Wir gingen zu einem der Löcher. Der Mann kniete neben einem Loch nieder und rief etwas ins Innere der Erde. Es dauerte ein wenig, bis sich eine Stimme aus der Tiefe zu uns quälte. Der Mann rief noch etwas; die Stimme aus der Tiefe kam näher, und ich sah nun zwei Hände, die sich auf den Rand des Lochs stützten. Zentimeter um Zentimeter schob sich ein Oberkörper ans Licht, schweißtriefend und lehmverschmiert, die zugekniffenen Augen öffneten sich allmählich, sein Körper dampfte. Keuchend setzte er sich auf den Rand der Mine.

Der Mann aus dem Loch grinste aus seinem zahnlosem Mund. Wir gingen gemeinsam zu den Häusern. Einige nebeneinandergelegte Bretter bildeten die Schwelle zu seinem Heim. In der Türöffnung wartete eine Frau. Sie war barfuß. Ihr Kleid hatte an manchen Stellen Löcher, durch die ihre Haut hervorschimmerte. Auf der anderen Seite der Terrasse saßen zwei Jungen. Der eine hatte seinen Fuß in einen zertretenen Gummiball gesteckt, und der andere kaute an einem Stück Holz. Ich schaute neugierig durch die Öffnung in den Raum hinein und erkannte eine Hängematte, in der etwas lag. Zwei Wochen alt ist das Baby, sagte die Frau. Es hatte seidenweiche Haut und schwarzes Haar. Neben seinem Kopf lag eine Bibel; das goldene Kreuz hob sich von der schwarzen Farbe des Umschlags ab.

Der Mann kam aus dem Dorf meines Begleiters. Vor Jahren war er ausgewählt worden, hier zu arbeiten. Er hielt ein Tüchlein in den Händen; mit den Fingern und Zähnen öffnete er den Knoten. Ein kleiner Haufen einer rötlich glänzenden Masse wurde sichtbar. Gold, sagte er. Mehr als einen Monat haben wir dazu gebraucht. Pure Scheiße, fluchte er, viel zuwenig zum Leben, doch genug für unseren langsamen Tod ... Alle paar Wochen kommen die fliegenden Händler mit den allradgetriebenen Jeeps, schwer beladen mit allerlei Sachen, die wir benötigen. Sie beliefern uns mit Salz, Öl, Kaugummi und Jesusgipsfiguren. Da wir selbst uns nur sehr schwer vom Fleck bewegen können, kommen sie zu uns, und sie bezahlen den Preis für unser Leben. Sie wissen, daß es nicht viel wert ist, als ob uns das im Gesicht geschrieben stünde.

Der Mann verknotete das Tüchlein mit dem Gold, zurrte die Tuchenden mit den Zähnen fest und fuhr fort: Über uns sagt man, wir seien friedvolle Menschen, die ihren Nächsten lieben mehr als sich selbst. Man sagt, wir seien religiös, bescheiden, geduldig und würden niemals überhöhte Ansprüche an unsere Herren stellen. Wir würden auf Goldboden geboren, doch würden wir davon nichts mitbekommen. Wir hätten Mitleid mit uns selbst und würden unsere Töchter verschenken, damit sie anderswo glücklich werden. Wir seien Indios und liefen gesenkten Hauptes, weil wir sehr lange Zeit nicht nach oben schauen durften. Wir seien gelb, häßlich, schmächtig und krank, hat man uns gesagt, immer wieder, bis wir selbst daran glaubten. Das ist lange, lange her, doch wir glauben immer noch daran ...

Saied Sharifi stammt aus dem Iran und arbeitet als freier Fotograf und Dokumentarfilmer in Berlin. Der vorliegende Text ist Teil eines Buchprojektes.

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