: „Ich bin einfach gestrandet“
Die Geschichte des Angus M.: Ein promovierter Historiker lebt heute in Eimsbüttel von der Sozialhilfe und führt einen ganz privaten Feldzug gegen die Gesellschaft ■ Von Peter Ahrens
Vor zehn Jahren war alles gut. Wenn der Doktor der Geschichtswissenschaft Angus M. über den Campus der Tübinger Universität ging, grüßten ihn die Studenten. Angus war ein promovierter Historiker und Sprachwissenschaftler, wohlbestallt und respektiert. Er kannte Walter Jens, den deutschen Rhetorik-Guru und arbeitete für den großen Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg. Heute ist Angus M. 55 Jahre alt, sitzt in einem Altenwohnheim in Eimsbüttel am Küchentisch und lebt von der Sozialhilfe. „Ich bin von der Position A auf der Position Z gelandet.“
Die Geschichte des Dr. Angus M. ist keine fröhliche Geschichte. Alles fängt an schiefzulaufen, als er sich vor sieben Jahren in Dortmund auf ein Fahrrad setzt. Eine S-Bahn erfaßt den Radfahrer, der stürzt, verletzt sich die Hüfte und muß ins Krankenhaus. Die Ärzte wollen operieren, doch irgendwas stimmt mit der Narkose nicht. M. erlebt einen Zusammenbruch, physisch und psychisch. Tagelang, wochenlang ist er im Dämmerzustand.
Als Angus M. aus dem Krankenhaus kommt, ist nichts mehr, wie es war. Er ist gesundheitlich schwer angeschlagen, die Hüfte ist kaputt, und er leidet unter psychosomatischen Ausfällen, Herzrasen und Beklemmungen. Um seine private Krankenversicherung hat er sich nicht gekümmert, die ist in der Zwischenzeit abgelaufen. Seinen Job in Tübingen hatte er kurz vor dem Unfall aufgegeben, er stand gerade in Verhandlungen mit mehreren deutschen Hochschulen, auch mit Hamburg, als es passierte. Angus M. kommt in eine Fachklinik nach Bad Salzuflen, die Kosten übernimmt erst einmal der Landschaftsverband Westfalen-Lippe als zuständiger Träger.
1994 kommt Hamburg ins Spiel. Angus M. bewirbt sich um einen Platz im Gemeinde-Psychiatrischen Zentrum Eimsbüttel GPZE. Eine große Stadt, vielleicht wieder eine Chance, in den Beruf hineinzukommen. Doch der Ärger geht schon bald wieder los. „Ich fing an, Beschwerde zu führen“, sagt Angus M., und das klingt harmloser, als es ist. Er beginnt, den Speisezettel der Einrichtung zu reklamieren, er beklagt, daß Patienten das Essen gestohlen werde, er moniert die Zustände in der Einrichtung, spricht von Übergriffen. Es ist der Anfang eines Feldzugs, den Angus M. da durchführt. Er schaltet höhere Stellen ein, schreibt an die Sozialbehörde, die Bundestagsabgeordneten Freimut Duwe und Peter Paterna bekommen Briefe von ihm.
Angus M. gibt keine Ruhe mehr. Er spricht von Essensentzug über Weihnachten und versteigt sich in diesem Zusammenhang zu Vergleichen mit Himmlers Halbierungserlaß, in dem die Verpflegung von psychisch Kranken reduziert wurde. „Ich weiß, daß das als polemisch abgetan wird“, sagt der Historiker.
Das Klima zwischen Angus M. und der Leitung des GPZE ist längst zerrüttet, außerdem rangeln Landschaftsverband und Einrichtung längst um die Kosten für seinen Aufenthalt. Im März 1996 wird Angus M. gegen seinen Willen aus dem GPZE entlassen, weil der Landschaftsverband sich weigert, weiter zu zahlen. Er schläft in der kommenden Nacht in der Bahnhofsmission. Der Abstieg nähert sich seinem Tiefpunkt.
Nach der Bahnhofsmission landet er in Kiez-Hotels, in die ihn das Sozialamt einquartiert und in denen er monatelang lebt. „Ich war quasi auf der Straße angekommen“, bilanziert Angus M. Weiter runter geht es nicht mehr. Vor einem Jahr weist das Sozialamt ihm die Unterkunft in der Altenwohnanlage an der Hochallee zu. Wenn Angus M. sich heute aus dem Fenster lehnt, kann er ein paar Häuser weiter das GPZE sehen.
Sein Feldzug ist damit nicht zu Ende, er hat gerade erst begonnen. Angus M. erstattet Anzeige gegen das GPZE wegen Diebstahls, Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung. Er bombardiert die Sozialbehörde mit Beschwerden. Er sagt: „Mir ist klar, daß ich auf dem Sozialamt inzwischen auf der Q-Liste stehe.“ Q steht für Querulant, vielleicht für Quälgeist.
Angus M. kann einfach nicht mehr aufhören. Die Ärztekammer, die Verbraucherzentrale, der Landschaftsverband, die stellvertretende Bürgermeisterin Krista Sager, die Universitätsklinik – alle bekommen Post oder Besuch von ihm. Fast überall läuft er vor die Wand. Für den Landschaftsverband sind M.s Proteste „Ausdruck seines Krankheitsbildes“, die Staatsanwaltschaft meldet sich fast zwei Jahre nach seiner Anzeige mit dem Hinweis, daß die Ermittlungen wegen Geringfügigkeit eingestellt sind. Als Walter Jens in der Stadt ist, hinterläßt Angus M. eine Nachricht für ihn und bittet um Hilfe. Jens erinnert sich nicht und ruft nicht zurück. „Die meisten denken sicher, ich bin hysterisch“, sagt Angus M. Papiere und Unterlagen stapeln sich mittlerweile bei ihm, geordnet nach Themen, in Klarsichthüllen.
Warum macht er das alles? Was soll das bringen? „Es geht nicht um Rache, ich will niemanden verletzen, ich will einfach eine Erklärung“, sagt er. Eine Erklärung will er für das, was ihm passiert ist. Und er will schreiben, seine eigene Geschichte aufschreiben. Ein Roman soll es mal werden. Das meiste liegt in der Schublade.
Das Herzrasen ist immer noch da, es macht es ihm unmöglich zu reisen. Eine Rückkehr in seine britische Heimat kommt daher nicht in Frage. Angus M. hat einen bitteren Zug um den Mund, wenn er feststellt: „Ich bin einfach hier gestrandet.“
Seine Zähne gehen ihm langsam kaputt, und die Kostenträger weigern sich, für eine teure Zahnbehandlung aufzukommen. „Ich sitze hier im reichsten Land Europas, und alle sagen mir, sie könnten meine Zähne nicht bezahlen.“ Angus M. protestiert, der Aktenberg wächst.
Das einzige, was der gelernte Historiker im Überfluß hat, ist Zeit. Er schlägt sie einfach tot. Angus M. geht jeden Tag in die Unibibliothek und liest stundenlang. Die Universität wird zu seinem Lebensraum – um die Zeit zurückzuholen, in der noch alles gut war. „Das ganze Lesen – eigentlich ist es zwecklos, weil ich ja mit 55 doch keinen Job mehr bekomme“, sagt er. Und fügt gleich an: „Aber was bringt die Resignation?“
Also macht er weiter, schreibt Briefe, legt Widerspruch ein, würde am liebsten die ganze Hamburger Gesellschaft auf die Anklagebank setzen. Angus M. sieht überall nur noch Filz, fühlt sich von einem Apparat umgeben, der ihm keine Chance läßt, der nur Zuständigkeiten hin und her schiebt. „Es gibt in dieser Stadt keine Kontrollmechanismen, es gibt keine Aufsichtsgremien, die Einfluß haben.“ Und noch etwas gibt es nicht, sagt Angus M.: „Herz habe ich hier fast nirgends erlebt.“
Als Historiker schrieb er für die Tübinger Universitätsgeschichte einen Aufsatz über die Besatzungspolitik in der Zeit nach dem Krieg. Der Krieg des Angus M. dauert noch an.
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