■ Kosovo und die Folgen (5): Jetzt brennen die Häuser der Nicht-Albaner. Die KFOR kann das nicht verhindern – die UÇK will nicht: Die Opfer der Opfer
Im Nachhinein ist man immer klüger – aber wer hätte damals, am 24. März 1999, als die ersten Nato-Bomben fielen, gedacht, dass der Potentat von Belgrad innerhalb von nur zwanzig Tagen zwei Drittel der Bevölkerung des Kosovo, weit über eine Million Personen, aus ihren Heimatorten vertreiben würde? Niemand.
Trotzdem: Die Nato hat ihr erklärtes Ziel, Vertreibung und Massaker zu verhindern, eindeutig verfehlt. Andererseits hat sie es geschafft, die Voraussetzungen für eine schnelle und massive Rückkehr der Flüchtlinge herbeizubomben. Während in Bosnien fast vier Jahre nach Dayton so gut wie keine Vertriebenen zurückgekehrt sind, leben anderthalb Monate nach dem Agreement zwischen Miloševic und der Nato über 80 Prozent der Kosovo-Albaner wieder in ihrer Heimat. Die serbischen Streitkräfte, verantwortlich für Vertreibung und Massaker, mussten abziehen. Damit war die Sicherheit für die rückkehrenden Albaner gewährleistet – nicht aber für die zurückgebliebenen Serben. Sie sind nun dem albanischem Volkszorn ausgesetzt. Erst brannten die Häuser der Albaner, nun brennen die der Serben.
Das war vorhersehbar – und hier haben die Nato-Truppen eindeutig versagt. Gewiss, viele Serben machten sich davon, weil sie in einem Protektorat des Westens, abgeschnitten von ihrem Mutterland Serbien, für sich keine Zukunft sahen. Andere sind wohl gegangen, weil sie in Verbrechen verwickelt waren. Viele aber sind einfach aus Angst vor Rache geflohen. Oder wurden mit Gewalt vertrieben.
Noch schlimmer als die Serben traf es die Roma und die Goraner, eine muslimische, serbischsprachige Minderheit im Süden der Provinz. Beide werden von den meisten Albanern generell der Kollaboration verdächtigt. Den Verräter aber verabscheut man mehr als den Feind. Es ist im Übrigen durchaus anzunehmen, dass unter den Roma, der „underclass“ oder dem „Lumpenproletariat“, sowie unter den „serbischen“ Goranern die Bereitschaft, sich vom Regime einspannen zu lassen, größer war als unter den Albanern, die ja als Mehrheitsbevölkerung immer die Perspektive hatten, in der Provinz die Herrschaft zu übernehmen. Trotzdem: Es gibt – oder es gab, wie man nunmehr sagen muss – rund 100.000 Roma im Kosovo, aber gewiss keine 100.000 Kollaborateure. Sicher, viele Roma haben sich an den Plünderungen beteiligt. Aber trotzdem kann man nicht von einer Kollektivschuld sprechen – wohl aber von einer Kollektivstrafe.
Die deutschen Soldaten in Prizren haben zwar Panzer vor der orthodoxen Kirche aufgefahren, für die Sicherheit der 10.000 Serben aber haben sie nichts getan – abgesehen davon, dass sie deren Abzug zum Teil militärisch sicherten und sich damit noch den Vorwurf der Beihilfe zur Vertreibung einhandelten. Die französischen Soldaten in Mitrovica haben der Vertreibung von 7.000 Roma und der Brandschatzung ihres gesamten Viertels, das nur wenige hundert Meter vom lokalen Hauptquartier der KFOR entfernt liegt, tatenlos zugesehen. Auf eine solche Entwicklung waren die Soldaten offenbar nicht vorbereitet. Sie waren schlicht überfordert.
Hunderttausende Kosovo-Albaner strömten in wenigen Wochen in ein Land zurück, in dem es weder Polizei noch Justiz noch überhaupt eine Verwaltung gab, und fanden ihre geplünderten Häuser vor. An vielen Orten entdeckten sie Leichen und Massengräber. Mindestens 10.000 Albaner wurden während der Nato-Angriffe von serbischen Soldaten, Polizisten und Paramilitärs massakriert. Viele schieben den Serben nun kollektiv die Schuld zu: Schließlich gab es kaum eine serbische Stimme des Protests, als die Albaner vertrieben wurden. Viele Serben und Roma haben die Häuser der Vertriebenen schamlos geplündert. Und die Serben waren zehn Jahre lang Nutznießer eines Apartheidsystems, nahmen zu tausenden die Arbeitsstellen gefeuerter Albaner ein.
All dies macht den Volkszorn der Albaner verständlich – doch nichts kann die Rache rechtfertigen. Es ist fatal, dass die albanische Elite, und insbesondere die UÇK-Führung, das Recht von Serben und Roma auf ein sicheres Leben im Kosovo bestenfalls in Lippenbekenntnisse erwähnt. Die UÇK verfügt über einen immensen Rückhalt unter den Albanern – doch keiner ihrer Führer, auch nicht Hashim Thaci, setzt seine Popularität vor Ort ein, um energisch Plünderung und Brandschatzung serbischer Häuser zu unterbinden. Es ist schlicht nicht ihr Anliegen. Und was geschieht, scheint den UÇK-Führern gerade recht zu kommen.
Der Aufbau einer neuen Administration, einer Polizei und Justiz, die für Rechtssicherheit sorgt, wird Aufgabe der UNO sein. Ihr Missionschef im Kosovo, der Franzose Bernard Kouchner, hat kurz nach seinem Eintreffen vor Ort Mitte Juni in Prizren schon erste Staatsanwälte und Richter eingesetzt. Doch für viele kommt er zu spät. Die Hälfte der 200.000 Serben, die vor den militärischen Auseinandersetzungen mit der UÇK im Kosovo lebten, hat die Provinz bereits im letzten Jahr verlassen, über die Hälfte der Gebliebenen ist jetzt aus Angst vor der Rache der Albaner geflohen.
Von 3.155 vorgesehenen internationalen Polizisten, die im Kosovo für Sicherheit und die Ausbildung einer ethnisch gemischten lokalen Polizei sorgen sollen, sind anderthalb Monate nach dem Einmarsch der KFOR-Truppen erst knapp 200 eingetroffen: schlicht ein Skandal. Jeder Tag zählt, jeder verlorene rächt sich.
Die internationale Gemeinschaft und ihr militärisches Exekutivorgan, die Nato, haben sich die Erhaltung einer multiethnischen Provinz auf ihre Fahnen geschrieben. Das Ziel lässt sich einfacher ausdrücken: Es geht darum, Menschen, ob Albaner, Serben, Goraner oder Roma, zu ihrem Recht zu verhelfen, in Sicherheit an ihren angestammten Orten zu leben. Diese Sicherheit setzt voraus, dass diejenigen, die in Kriegsverbrechen verstrickt sind, vor die Schranken der Justiz kommen, soweit man ihrer habhaft wird.
Eine wirkliche Befriedung der Provinz erfordert wohl auch eine breite gesellschaftliche Diskussion über Schuld und Verantwortung. All dies braucht Zeit. Noch ist der Schmerz über die verlorenen Väter, Mütter und Kinder zu groß. Noch sind vielerorts die Toten nicht begraben. Doch in wenigen Monaten schon steht der Winter vor der Tür. Der Westen tut gut daran, seine Wiederaufbauhilfe zu konditionieren und sie jenen Dörfern und Städten anzubieten, die die Rückkehr vertriebener Serben und Roma akzeptieren. Andernfalls wird das Resultat der Nato-Intervention letztlich ein ethnisch reines Kosovo sein.
Das wäre nicht nur eine bittere Ironie der Geschichte, sondern auch ein böses Omen für die Zukunft des Balkan.
Die UÇK hat für die Rechte von Serben und Roma nur Lippenbekenntnisse übrigWiederaufbauhilfe sollten nur diejenigen erhalten, die Rückkehrer akzeptieren
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen