Neue Thesen aus altem PDS-Arsenal

■ Fraktionschef Gregor Gysi präsentiert seine zwölf Punkte zur „modernen Gerechtigkeit“: Abgrenzung zur Schröder-SPD durch Variation des PDS-Programms

Berlin (taz) – Wieder mal gut erholt und braun gebrannt stellte sich gestern Gregor Gysi in Berlin einer großen, bleichen und daher neidischen Journalistenschar, um sein Zwölf-Punkte-Programm „Gerechtigkeit ist modern“ zu präsentieren – diesmal in vollständiger Fassung, nachdem der Spiegel ein paar Fragmente in Sensationsabsicht schon lanciert hatte.

Der Chef der PDS-Bundestagsfraktion lokalisierte die zwölf Punkte als Kontrapunkt zum Schröder/Blair-Papier. Nicht die beiden Verächter sozialdemokratischen Sozialstaatsdenkens seien auf der Höhe der Zeit. Wirklich modern sei vielmehr das Postulat der sozialen Gerchtigkeit. Dem Siegeszug des Neoliberalismus innerhalb der SPD müsse etwas Handfestes entgegengesetzt werden.

Ausdrücklich widersprach er der Vorstellung, seine Thesen seien eine Art taktisches Manöver für die anstehenden Landtagswahlen. Dennoch werfen die zwölf Punkte Fragen der politischen Taktik auf, vor allem aber ein taktisches Dilemma der PDS. Wenn die SPD Schröders tatsächlich weiter nach rechts rückt, verringern sich die Chancen von Kooperation respektive Koalition mit der PDS auf Landesebene. Es bliebe dann nur der Rückzug in die Totalopposition. Diese Variante aber wollen Gysi und seine Freunde auf alle Fälle vermeiden. Andererseits sind nach dem Schröder/Blair-Papier einer weiteren Annäherung enge Grenzen gesetzt. Bleibt die Hoffnung auf Differenzierungsprozesse, vor allem in der ostdeutschen SPD. Ringstorff hat sich, wie zu hören war, Gysis Papier schon faxen lassen.

Aus den vorab veröffentlichten Fragmenten hatte der Eindruck entstehen können, Gysis Positionspapier umzingle linke SPD-Wähler quasi von zwei Seiten her. Es verteidige einerseits das von der SPD verlassene Terrain sozialer Gerechtigkeit, presche andererseits aber auch weit nach rechts vor, indem es beispielsweise die private Altersvorsorge als Zusatz zu einer Mindestrente propagiere.

Tatsächlich modifiziert Gysis Papier nur Vorschläge, die bereits zum PDS-Arsenal zählen. So im Fall der Mindestversorgung, in deren Genuss alle kommen sollen, die aber auch von allen finanziert werden muss. Bislang sollte das nach PDS-Programm über den Staatshaushalt gehen, jetzt nach Gysis Willen über Beiträge. Wobei die Unternehmerseite nicht, wie gegenwärtig, entsprechend der von ihr beschäftigten Arbeitskraft, sondern entsprechend ihrer Wertschöpfung einzahlen soll. Wodurch die Einnahmen der Sozialversicherung nach oben schnellen würden. Allerdings ist für die Beitragszahler eine Obergrenze avisiert. Wer darüber hinaus Rente erhalten will, soll sich zusätzlich privat versichern. Abgaben nach der Wertschöpfung gehören zum (nicht verwirklichten) sozialdemokratischen Traditionsbestand.

Das Projekt geht nach Gysis Rechnung finanziell auf, zeichnet sich allerdings nicht gerade durch Freundlichkeit gegenüber Großunternehmern aus. Es ist ein Instrument der Abgrenzung zur Schröder-SPD und nicht Element einer gemeinsamen Schnittmenge.

Die zwölf Punkte sehen eine zunehmende Schere zwischen der immer weiter ansteigenden Produktivität und der Anzahl derer, die einen festen, gesicherten Job haben. Eine Minderheit muss sich immer mehr abrackern, während eine immer größere Zahl von Menschen die erzwungene, freie Zeit mangels Geld nicht sinnvoll nutzen kann. Ehemals festgefügte Erwerbsbiografien purzeln: mal ein Lohnarbeiter, mal ein Unternehmer am Rand des Existenzminimums, mal ein Arbeitsloser, der mit Aktien spekuliert. Nicht die Arbeitsverhältnisse im Westen, sondern die des Ostens nehmen nach Gysis Meinung die Zukunft vorweg. Die Antworten der zwölf Punkte rekurrieren nicht auf das klassische Vollbeschäftigungsmodell. Sie lesen sich vielmehr wie Variationen auf den von Giarini/Liedtke verfassten Bericht des Club of Rome „Wie wir arbeiten werden“, was vor allem die nichtmonetarisierte „dritte Schicht“ produktiver Eigenarbeit angeht, die es aufzuwerten gilt.

Gelingt hier Gysi der Anschluss an eine moderne Diskussion, so bleibt doch die Frage, was an dieser Modernität sozialistisch sein soll. Auf diese Frage sagt Gysi nur unwirsch: „,Überwindung‘ steht in These 6.“ Christian Semler

Die zwölf Punkte von Gregor Gysi werfen Fragen der politischen Taktik auf, vor allem aber stürzen sie die PDS in ein taktisches Dilemma