: Von Aallaicherei bis Zobelzuchthölle
Grzimek, Sielmann, Hass und Co. bereiteten den Boden für die Ökologiebewegung. Ihre Fernsehtierfilme haben vermutlich mehr zum Schutz der Wildnis beigetragen als alle Bücher und Aufrufe zusammen ■ Von Michael Miersch
Zwölfmal im Jahr kam die Natur ins Wohnzimmer. Dienstags um Viertel nach acht vertrat Bernhard Grzimek mit knarzender Stimme die Anliegen von Adlern, Affen und Ameisenbären. Staunend hockten die Kinder der 50er und 60er Jahre vor den kleinen, flimmernden Schwarzweißbildschirmen und träumten von Afrika. Mit seiner Sendung „Ein Platz für Tiere“ prägte der Frankfurter Zoodirektor das Naturbild einer ganzen Nation. „Tierfilme sorgten dafür, daß die Beziehung zur Natur auch in Hochhäusern nicht abriß“, sagt heute der BUND-Vorsitzende Hubert Weinzierl.
Pioniere wie Grzimek, Eugen Schuhmacher, Heinz Sielmann, Hans Hass und Jacques Cousteau bereiteten den Boden, auf dem später die Ökologiebewegung keimen konnte. In einer Zeit, als das Wort „Umweltschutz“ noch nicht erfunden und die Farbe „Grün“ politisch bedeutungslos war, pflanzte Grzimek die erste ökologische Utopie: „Serengeti darf nicht sterben“. [...]
Der direkte Draht zur Natur war den Menschen schon lange abhanden gekommen – nicht erst seit es Hochhäuser gab. Bereits die Bürger Roms kannten wilde Tiere nur noch aus dem Zirkus. Und ein mittelalterlicher Bauer wäre kaum auf die Idee gekommen, in seiner Freizeit das Brutverhalten des Buntspechts zu beobachten.
Erst das Fernsehen kehrte diesen jahrtausendealten Entfremdungsprozeß zwischen Mensch und Wildnis um. Städter in Berlin oder Paris können heute durch ihr TV-Fenster grandiose Naturschauspiele beobachten, die in freier Natur kaum ein Mensch zu Gesicht bekommt: fischende Bären, balzende Paradiesvögel oder tauchende Pinguine. „Heute hat jedes Kind das Jagdverhalten von Löwen schon näher, deutlicher und häufiger gesehen als vor vierzig Jahren Zoologen, die sich damit wissenschaftlich befaßten“, sagt der Tierfilmer und ZDF-Redakteur Reinhard Radke. Die televisionäre Neuentdeckung der Natur schlägt alle Rekorde. David Attenboroughs BBC-13-Teiler „Life on Earth“ sahen 500 Millionen Menschen in 100 Ländern.
Seit es Kino gibt, sind Naturfilme ein eigenständiges Genre der Populärkultur. [...] In den Kindertagen des Kinos war die Natur eine Ansammlung tückischer Tiger, grober Gorillas und hinterhältiger Haie. Über Lebensweise und Verhalten von Tieren erfuhren die Zuschauer wenig. Frühe Naturfilmer gefielen sich in der Pose des furchtlosen Abenteurers und fanden nichts dabei, Tiere vor der Kamera abzuschießen.
Das änderte sich in den 50er Jahren. Damals kam „Serengeti darf nicht sterben“ in die Kinos. Grzimeks grandioses Savannenepos zeigte die Wildnis als etwas Wundervolles und Schützenswertes: Aus Ungeheuern wurden bedrohte Arten. [...]
Wenig später wurde Grzimek zu einer Säule des deutschen Fernsehens, so fest ins Programmschema eingebaut wie Kulenkampff, Lembke oder Höfer. Die 175 Folgen von „Ein Platz für Tiere“ erreichten oftmals Einschaltquoten von siebzig Prozent. [... Die Sendung] wurde die erfolgreichste Dokumentarserie der Welt und ein Meilenstein deutscher TV-Geschichte. Keine Natursendung danach konnte wieder den institutionellen Charakter von Grzimeks Auftritten erreichen. [...]
Die Kinder des Wirtschaftswunders verdanken „Ein Platz für Tiere“ weit mehr als die Erinnerung an Nackttänze in Urwalddörfern und eine wunderbare Loriot-Parodie (“Die Steinlaus“). Teile dieser Generation wurden von dem scheinbar betulichen Tierfreund mit einem neuen Denken infiziert. Grzimeks Botschaft, die Natur dürfe nicht ausgebeutet und zerstört werden, war damals keinesfalls selbstverständlich. [...] Naturliebe galt als Marotte grauhaariger Wandervögel. [...] Tiere waren kein Thema.
„Das Abholzen der Regenwälder“, schrieb Grzimek bereits damals, „die Verschmutzung der Weltmeere, insgesamt die Zerstörung der natürlichen Lebensräume für Tiere und Pflanzen sind eine Form des Krieges der Menschen gegen sich selbst.“ Dieser Geist erwies sich als langlebig und resistent gegenüber gegenläufigen Zeitströmungen. In den späten sechziger Jahren galt das Interesse an Rotkehlchen oder Blauwalen bestenfalls als naiv oder wurde als reaktionäre Naturtümelei abgeurteilt: Grzimek, ein verschrobener Grünrock mit nasalem Tonfall, den Intellektuelle abfällig parodierten. Doch der Urgrüne war nur seiner Zeit voraus und gründete gemeinsam mit Horst Stern und Hubert Weinzierl die „Gruppe Ökologie“.
[...] „Ein Platz für Tiere“ bestehe aus zwei Dritteln Unterhaltung und einem Drittel Aufklärung, bemerkte Grzimek gelegentlich. Er betrachtete die schönen und unverfänglichen Tierbilder als Mittel, um den Naturschutz zu transportieren. Wenn er, begleitet von einem Geparden, am Studiotisch saß, strahlte er unangreifbare Kompetenz in Verbindung mit menschlicher Wärme aus. [...]
Der so harmlos wirkende Tieronkel wußte seine Medienmacht geschickt zu nutzen. „Er war ein Motor der Naturschutzbewegung“, sagt Hubert Weinzierl. „Seine Sendung war immer auch ein politischer Termin. Wir versorgten ihn mit der nötigen Munition.“ [...] Grzimek war die Stimme der Natur in der Öffentlichkeit. Zum Verdruß der katholischen Kirche propagierte er bei jeder Gelegenheit Familienplanung und Verhütung. Denn in der wachsenden Zahl der Menschen sah er die größte Bedrohung für die Wildnis. Wenn Grzimek im Fernsehen Krokotaschen oder Leopardenmäntel verdammte, konnte sich am nächsten Tag kaum noch eine Frau damit sehen lassen. [...] Als erster zeigte er den Deutschen, wie weit sich die Landwirtschaft von der Natur entfernt hatte. Seine Bilder von Käfigbatterien und dunklen Boxenställen zerstörten für Tausende den Glauben an die heile Welt des Bauernhofs.
Seinen ersten Film über Käfighühner drehte er auf dem Hof des hessischen Bauern, der ihm immer die Eier lieferte. Grzimek hatte seinen Enkelsohn für ein paar Tage dorthin geschickt, damit der kleine Junge das Landleben kennenlernte. Verstört kam das Kind zurück und erzählte von den trostlosen Käfigställen. Als der Bauer das nächste Mal Eier ausfuhr, schlich sich Grzimek auf seinen Hof, um – ohne Genehmigung – zu filmen. Der Landwirt verzichtete später auf eine Anzeige, obwohl das Gesetz auf seiner Seite war. Er ahnte, daß ein Rechtsstreit mit dem Fernsehprofessor ihm nur noch mehr geschadet hätte.
Ein Vierteljahrhundert bevor die Rio-Konferenz dazu aufrief, Naturschutz und wirtschaftliche Entwicklung zu verbinden, hatte Grzimek bereits erkannt, daß in den armen Ländern des Südens ohne ökonomischen Anreiz nichts zu retten ist. Deshalb propagierte er den – heute oft verteufelten – Tourismus. Er wußte, daß die Naturgebiete Ostafrikas, die ihm besonders am Herzen lagen, auf Dauer in Weideland umgewandelt würden, wenn sie kein Geld in die leeren Staatskassen brächten. Um den Naturtourismus anzustoßen, ließ er sich in den 60er Jahren einen Bluff einfallen. Er verkündete in seiner Sendung, es gebe jetzt Pauschalreisen nach Ostafrika. Am nächsten Tag riefen die großen Touristikunternehmen bei ihm an und wollten wissen, welcher ihrer Konkurrenten dahinterstecke. Grzimek hielt sich bedeckt, denn er hatte die Nachricht frei erfunden. Seine Rechnung ging auf: Wenige Wochen später gab es solche Fernreisen wirklich. So zahlten sich Nationalparks in Kenia und Tansania endlich ökonomisch aus und wurden – einschließlich der Serengeti – bis heute erhalten.
Zur gleichen Zeit, als Grzimek die Zuschauer zu den Wildnisgebieten der Erde entführte, berichtete der Österreicher Hans Hass aus den Tiefen der Unterwasserwelt. Für seine Serie „Expedition ins Unbekannte“ tauchte er 26 Folgen lang durch die Ozeane. [...] Sportsmann, Forscher und Filmer zugleich, legte der 1919 geborene Hass den Grundstein für eine neue Form der Meeresbiologie. Kein Mensch hatte zuvor eine klare Vorstellung davon, wie es am Meeresboden aussieht, welch lebendige Pracht sich unter der spiegelnden Wasseroberfläche verbirgt. [...] Furchtlos filmte er gefährliche Haie und riesige Rochen. Seine Frau Lotte, eine sportliche, blonde Schönheit, war immer mit dabei. Zur Freude des Publikums trug sie stets besonders textilarme Bademodekreationen. „Keine Grotte ohne Lotte“, scherzten die Zuschauer in den 50er Jahren.
Der dritte deutsche Tierfilmpionier ist heute fast vergessen: Eugen Schuhmacher. Auch er begann mit Kulturfilmen (so wurden Naturdokumentationen damals genannt) fürs Kino und kam Ende der 50er Jahre zum Fernsehen. Über 100 Folgen lang lief seine Serie „Auf den Spuren seltener Tiere“. Schuhmacher war ein Sammler, der in den letzten Paradiesen der Erde die Raritäten der Tierwelt auf Zelluloid festhalten wollte. [...] Er servierte sie dem Publikum im Dialog mit dem Fernsehredakteur Ernst Emrich, der stellvertretend für die Zuschauer Fragen stellte. Es war immer ein bißchen wie beim heimischen Dia-Abend.
In den Kindertagen des Fernsehens wurde noch live gesendet. „Als Schuhmacher seinen Neuguinea-Film über Paradiesvögel vorstellte“, erinnert sich Emrich, „saß eine Mitarbeiterin strickend im Studio. Plötzlich fällt eine Stricknadel klirrend zu Boden. Schuhmacher kapierte sofort, daß dieser Ton über den Sender ging. ,Da haben Sie es gehört, es gibt einen metallischen Ton im Balzspiel dieser Paradiesvögel', sagte er. [...]“
Einige Jahre später gesellte sich ein weiterer Charakterkopf in die Riege der Tierfilm-Präsentatoren: Heinz Sielmann. Seine „Expeditionen ins Tierreich“ gerieten ebenfalls zum Dauerbrenner: 170 Folgen. Sielmanns Spezialität war die versteckte Kamera, mit der er das Familienleben der Tiere dokumentierte. Von nun an konnten die Zuschauer Tierverhalten hautnah miterleben: Balz, Brut und Beutefang. Der Filmer arbeitete mit Verhaltensforschern wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt zusammen, der sogar eine Galapagosechse auf den Namen seines Freundes taufte: Amblyrhynchus cristatus sielmanni.
[...] TV-Taucher Hans Hass gab in den 60er Jahren den Dokumentarfilm auf und schrieb philosophische Bücher. Seinen Platz nahm der Franzose Jacques Cousteau ein. Der ehemalige Marinekapitän kreuzte mit seinem Forschungsschiff „Calypso“ überall, wo die Haie gefährlich und die Korallen bunt waren. Seine Reihe „Geheimnisse des Meeres“ zählte in Deutschland 13 Jahre lang zu den beliebtesten Serien. Gemeinsam mit seiner Crew aus Tauchern und Forschern machte er Meeresbiologie zum Fernsehereignis. Mit viel technischem Einsatz trieben die Männer in den gelb-schwarzen Uniformen seltsame Experimente am Meeresgrund. Sie provozierten griesgrämige Zackenbarsche mit Spiegeln und ließen sich von Walhaien durchs Wasser ziehen. Für Hans Hass hatte es in den 50er Jahren noch genügt, die Meerestiere einfach abzubilden. Zehn Jahre später setzte Cousteau neue Maßstäbe. [...]
Fernsehnaturfilme haben vermutlich mehr zum Schutz der Wildnis beigetragen als alle Bücher und flammenden Aufrufe zusammen. „Die Menschen sind seit eh und je von Tieren fasziniert gewesen“, sagt Heinz Sielmann, „aber das Fernsehen hat aus den Tieren Mitgeschöpfe gemacht.“ Noch nie hatten so viele Menschen Zutritt zu den Wundern der Erde. Selbst bei der heutigen Programmfülle erreichen manche Tierdokumentationen in Deutschland über fünf Millionen Zuschauer.
Wer einschaltet, kann sich längst nicht mehr sicher sein, nur drollige Bären und elegante Tiger serviert zu bekommen. Seit einem Vierteljahrhundert gehört es im Naturfilm zum guten Ton, auf die Bedrohung seltener Tiere und empfindlicher Lebensräume aufmerksam zu machen. Mittlerweile kommt der obligate „ökologische Zeigefinger“ am Filmende so sicher wie der Abspann. So entstand – entgegen der Realität – beim Publikum der Eindruck, als würde alles immer nur schlimmer. [... Dabei] sind die Erfolge des Artenschutzes unübersehbar, und der Naturfilm hat viel dazu beigetragen. [...]
Gekürzter Vorabdruck aus: „Flimmerkiste. Ein nostalgischer Rückblick“. Hg. von Nina Schindler. Gerstenberg Buchverlag Hildesheim, 454 S., 49,80 DM. Erscheint am 23. August.
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