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Die einen drin, die andern draußen

Serie „Grenzstadt Berlin“ (Teil 1): Zehn Jahre nach dem Mauerfall sind am Checkpoint Charlie und Potsdamer Platz neue, unsichtbare Grenzen entstanden  ■ Von Uwe Rada

Wahrhaftig, eine Dame. Im schwarzen Seidenkostüm steht sie vor dem „Quartier 206“ in der Berliner Friedrichstraße und mustert die Auslagen: Pumps von Manolo Blahnik, Silber aus Burma oder das Lieblingsparfum von Catherine Deneuve. Im „Departementstore“ der Investorengattin Anna Maria Jagdfeld mangelt es an nichts, außer an Preisschildern. Ein „Ressourcing-Team“ von 60 Mitarbeitern ist ständig unterwegs, um den Luxus der Welt auch nach Berlin zu bringen. Die Dame im Seidenkleid ist dennoch skeptisch. Den Departmentstore in einem der neuen Blöcke der Friedrichstadt-Passagen findet sie zwar ganz passabel. „Aber das Umfeld, das lässt zu wünschen übrig.“

Einige Blöcke weiter südlich steht Hassan hinter seiner Kasse und wartet auf Kundschaft. Hassan hat immer Kundschaft, auch tagsüber. Hassans Kundschaft hat viel Zeit, aber wenig Geld. Es sind vor allem Landsleute, aber auch Alte und Sozialhilfeempfänger, die hier Obst und Gemüse kaufen. Diejenigen, die auf Obst und Gemüse weniger Wert legen, zieht es zu den Schnapsregalen bei „Plus“, oder gleich an die nächste Theke. Hassan hat sein Geschäft inmitten von dem, was man in Berlin neuerdings ein „Problemquartier“ nennt. „Von da oben“, sagt er und deutet in Richtung Friedrichstadt-Passagen, „verirrt sich nur selten ein Kunde hierher. Die Leute bleiben meistens unter sich.“

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer markiert der zwischen beiden Szenerien gelegene „Checkpoint Charlie“, an dem sich im Oktober 1961 die Panzer der Sowjets und Amerikaner gegenüberstanden, eine neue Grenze – zwischen jenen, die es geschafft haben, und jenen, denen räumlich, sozial und kulturell bedeutet wird: „Wir müssen draußen bleiben!“

War die Berliner Mauer eine – weithin sichtbare – Außengrenze zweier Staaten und Systeme, stecken die neuen Grenzen eher den Binnenbereich der „zusammengewachsenen“ Metropole Berlin ab. Hassan und die Dame im Seidenkleid leben nun zwar in einem gemeinsamen Staat, aber nicht mehr in derselben Stadt. Sie leben in zwei voneinander abgetrennten Welten, in denen der Name des jeweiligen Quartiers weitaus mehr über ihren Stand in der Gesellschaft ausdrückt als der gemeinsame Name der Stadt. Im „Neuen Berlin“ mit seinen städtebaulichen Highlights, aber auch seinen wachsenden Ungleichheiten muss man sich nicht mehr über den Weg laufen. Man kann vielmehr unter sich bleiben, ein jeder auf seinem Terrain: die einen in den Friedrichstadt-Passagen, die anderen, 300 Meter weiter, bei Hassan und in den Eckkneipen. Die neuen Grenzen sind, wenn man so will, die Außengrenzen dieses Binnenterrains, unsichtbar und doch voller eindeutiger Botschaften.

Das Niemandsland ist geblieben. Es hat sich nur etwas nach Süden verschoben, vor allem aber wird es von keinem mehr als Symbol der Teilung gegeißelt. Das Niemandsland am Potsdamer Platz ist kein Todesstreifen mehr, sondern eine Brücke, die Potsdamer Brücke. Eine Brücke allerdings, der die ursprüngliche Bedeutung, zwei Stadträume miteinander zu verbinden, abhanden gekommen ist. Stattdessen bildet die Potsdamer Brücke zusammen mit dem Landwehrkanal eine Schneise, die das Gründerzeit- und Armutsquartier an der Potsdamer Straße von der computergenerierten Glitzerwelt des Potsdamer Platzes abschneidet. Offenbar mit Erfolg. Wie auch am Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße verirren sich nur wenige in jene Räume, die nicht für sie vorgesehen sind. Weder in die eine, noch in die andere Richtung.

Die neuen, unsichtbaren Grenzen Berlins hat der Soziologe Bernd Hunger einmal „amerikanisch“ genannt. Den trennscharfen, baulichen wie auch sozialen Übergang wie am Checkpoint Charlie oder am Potsdamer Platz kenne man sonst nur aus amerikanischen Innenstädten. Der Bostoner Kunsthistoriker John Czaplikka, Mitorganisator einer Berlin-Konferenz an der Universität von Harvard, Massachusetts, hat Berlin bereits im Februar 1997 den denkwürdigen Nimbus einer „Grenzstadt“ verliehen. Überall würden sich neue, kleinräumige Barrieren auftun: soziale, räumliche, kulturelle und, nach wie vor, diejenigen zwischen Ost und West. Wo aber nur Grenzen aufgebaut statt überwunden werden, leide auch die Demokratie.

Sind das nur Hirngespinste einiger von postmodernen Horrorszenarien faszinierter Theoretiker, oder deutet sich in Begrifflichkeiten wie „neue Grenzen“ oder „Grenzstadt“ tatsächlich eine neue sozialräumliche Topografie des „neuen Berlin“ an, ein Abschied von der in sich gemischten, sozial integrierten europäischen Stadt?

Ingo Beerman ist Neuberliner, einer von denen, die es beruflich an die Spree gezogen hat. „Noch nie“, sagt der smarte Blonde mit dem lässig sitzenden Anzug, „war ich drüben.“ Drüben, das ist für den Verkäufer der Galeries Lafayette die „andere Seite“ der Friedrichstraße, von der er bislang nur gehört hat. Doch das reicht dem gebürtigen Kasselaner. „Ich muss da nicht rüber“, ist er überzeugt, „die Menschen haben heutzutage eben ein Bedürfnis, sich in ihren Ghettos einzubunkern, das ist ja auch verständlich.“ Außerdem habe er Angst, dass die Türken seinen Daimler demolieren, weil sie ihn für eine Nobelkarosse halten. Beerman kann aber auch nichts Ehrenrühriges daran finden, dass die meisten Bewohner der anderen, der Kreuzberger Seite, nicht nach Mitte kommen. „Die merken ja schließlich von selbst, dass sie nicht hierher passen.“

Beermans Haltung ist so nachvollziehbar wie absurd. Die ihm fremde Welt südlich des Checkpoint Charlie wirkt umso bedrohlicher, je mehr er sie nur aus Erzählungen und nicht aus eigener Wahrnehmung kennt. So aber entfaltet die neue Grenze ihre Botschaft, die auf keinem Schild steht und die dennoch jeder versteht: „Achtung, Sie verlassen den sicheren Sektor!“ Was aber hält die Bewohner der südlichen Friedrichstadt davon ab, den unsicheren Sektor zu überschreiten? Wie vermittelt sich die Botschaft, nicht dazuzugehören, unerwünscht zu sein im städtischen Raum?

Einer der ersten, der sich zu solchen Fragen Gedanken gemacht hat, war der französische Soziologe Henri Lefêbvre. In seiner Schrift „Die Produktion des Raums“ definierte Levebre bereits in den siebziger Jahren drei Formen räumlichen Erlebens: zum einen die „stoffliche Gestaltung“ des Raums, die dazu diene, die wirtschaftliche Produktion und gesellschaftliche Reproduktion zu sichern; zum andern die „Repräsentation von Raum“ in Form von Zeichen, Codes und Bedeutungen, die es ermöglichten, die stoffliche Gestaltung zu verstehen und zu diskutieren. Und schließlich die „Räume der Repräsentation“ als gesellschaftliche Erfindungen, die in der Lage seien, neue Bedeutungen und Möglichkeiten räumlicher Gestaltung zu schaffen.

Diese drei Dimensionen werden bei Lefêbvre auch als das „Erlebte“, das „Wahrgenommene“ und das „Imaginierte“ bezeichnet. Der amerikanische Soziologe David Harvey hat Levebres Gedanken zur Raumproduktion in jüngster Zeit um Überlegungen zum „klassenspezifischen Gehalt räumlicher Gestaltung im urbanen Rahmen“ ergänzt. „Diejenigen, die die Macht haben, über den Raum zu bestimmen und ihn zu gestalten, besitzen damit ein lebenswichtiges Instrumentarium zur Reproduktion und Vergrößerung ihrer eigenen Macht“, meint Harvey. Dabei kommt der Symbolik heute umso größere Bedeutung zu, wird das „Erlebte“ und „Wahrgenommene“ mehr und mehr vom „Imaginierten“ überlagert.

Im sicheren Bürosektor nördlich des Checkpoint Charlie wird diese Symbolisierung des Raumes mitsamt ihrer Grenzziehung zum „Problemquartier“ südliche Friedrichstadt besonders kenntlich. Bedeutung kann hier überhaupt nur dem „Imaginierten“ zukommen, da das „Erlebte“ (gläserne Büroklötze neben Baulücken) und das „Wahrgenommene“ (Leerstand, wohin das Auge blickt) an Schlichtheit und Banalität kaum zu überbieten sind. Das „Imaginierte“ wiederum, die exklusive Bürowelt des Checkpoint Charlie, ist nichts anderes als ein Versprechen in die Zukunft, von dem man heute bereits ahnt, dass es womöglich nie eingelöst wird. Gleichwohl verleihen die leer stehenden Bürobauten als Stein gewordene Symbole diesem Versprechen eine materielle Kraft, an der man einfach nicht vorbeikommt. Umgekehrt gilt dasselbe, nur eben seiten- und realitätsverkehrt. Je weiter die Angestellten der Banken, Versicherungen oder des Kaufhauses Lafayette nach Süden gehen, umso mehr treten sie aus ihrer nur scheinbar Realität gewordenen Inselwelt eines „Central Business District“ heraus und werden statt mit „Imaginiertem“ plötzlich mit „Wahrgenommenem“ und „Erlebtem“ konfrontiert. Es ist nicht mehr die Symbolik der Macht, die als deutliches Zeichen über dem Raum der südlichen Friedrichstadt steht, sondern es sind die unmittelbaren Symbole der Ohnmacht, verkommene Häuser, provisorische Baracken, Billigläden.

Neue, kleinräumige Grenzen wie die am Checkpoint Charlie und am Potsdamer Platz findet man in der Grenzstadt Berlin, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, überall. In Prenzlauer Berg markiert die Danziger Straße die Grenze zwischen dem zur Yuppietown gewordenen Kollwitzplatz und dem „Problemquartier“ Helmholtzplatz. In Mitte sprechen Investoren bereits von der „Profitgrenze Torstraße“, die die von unteren Einkommensschichten bewohnte „Rosenthaler Vorstadt“ von den Touristenrennstrecken der „Spandauer Vorstadt“ trennt. In „Arkadien“, unmittelbar hinter der Glienicker Brücke, schotten sich in einem „Wohnsicherheitstrakt“ die Reichen vom Rest der Welt ab, und in manchen Gebieten Kreuzbergs die marginalisierten Jugendlichen von jenen, denen die Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand noch nicht völlig versagt ist. Wenn man so will, ist die „mehrfach geteilte Stadt“ (Peter Marcuse) nichts anderes als die räumliche Entsprechung der neoliberalen Auflösung der städtischen Gesellschaft in „Ins“ und „Outs“. Je mehr das sozial(istisch)e Projekt der Chancengleichheit seine identitätsstiftende Wirkung verloren hat, desto mehr richtet man sich in den Räumen der Ungleichheit ein und sichert sie ab.

Doch die Errichtung immer neuer sozialer und räumlicher Grenzen, die in Amerika schon lange zur Metapher einer Stadt als Summe von „Ghettos und Zitadellen“ geführt hat, birgt nicht nur, wie es viele Kulturkritiker beschwören, die Auflösung der Gesellschaft in immer homogenere Gemeinschaften in sich. Sie bringt auch neue Formen von Vergesellschaftung hervor. Nur dass jetzt, da sich die einst gemischten Quartiere auflösen, die Grenzorte selbst – als Schnittstellen dieser Teilgebiete – in den Mittelpunkt dieser neuen Fragmente von Stadtgesellschaft geraten.

Einer dieser Grenzorte ist das Bistro „Lekkerbek“ in der Friedrichstraße. Gleich am Ausgang des U-Bahnhofs Kochstraße gelegen, ist es, anders als die nahen Locations „Schlotzkys“ oder „Jens and Friends“, sowohl Anlaufstelle für Büroangestellte als auch für die Bewohner der südlichen Friedrichstadt. Es ist der Mangel an symbolischer „Imagination“, die die Nutzer beider Milieus gleichermaßen beruhigt. Die Alten und Armen, die hier sonntags eine Tasse Kaffee samt Schrippe und einem Stück Butter bestellen, weil der von einem Türken betriebene „Lekkerbek“ für sie mehr Gebrauchs- als Tauschwertcharakter hat. Und die Erfolgreichen, weil sie an diesem ganz realen Ort einmal Erholung von der Imagination ihres Daseins machen können. Unter den Vorzeichen der Teilung, heute nicht anders als vor dem Fall der Mauer, sind es die Grenzgänger, die den Gedanken an deren Überwindung aufrechterhalten.

Nächsten Montag: Privatisierung ohne Grenzen

„Die Menschen haben ein Bedürfnis, sich in ihren Ghettos einzubunkern. Die merken ja schließlich von selbst, dass sie nicht hierher passen.“

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