Sonntagsvergnügen

Kann denn Shoppen Sünde sein? Der Sonntag ist christlicher wie säkularer Moral gleichermaßen heilig  ■   Von Brigitte Werneburg

Die Ruhe ist wieder eingekehrt. Zumindest in Berlin.Und weil man heute also nicht einkaufen, aber sehr wohl arbeiten kann, gibt es ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Zum Beispiel sind die Katholiken nicht daran schuld – dass der Sonntag in Deutschland so verdammt heilig ist. Das hat eher mit einem Protestantismus zu tun, der sich alttestamentarisch gibt. Am deutschen Sonntag, der ein Tag „der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ ist, wie der Artikel 139 der Weimarer Verfassung bestimmt, der nach dem Zweiten Weltkrieg umstandslos ins Grundgesetz übernommen wurde, geht es mehr um den Sabbat als um das Hochamt.

Der überzeugte Katholik Werner Schmitt, rühriger Teehändler am Ku'damm in Berlin, täuscht sich, wenn er meint, seiner Kirche sei die Sonntagsruhe ein kulturell und traditionell besonderes Anliegen, weshalb sein Kardinal Georg Sterzinsky Sonntag vor einer Woche unbedingt vor dem Kaufhof am Alexanderplatz hätte demonstrieren müssen. Der Teehändler sollte sich mal umsehen in Europa, bei den edelsten Töchtern der römisch-katholischen Kirche, in Frankreich, in Italien, Spanien oder heute in Polen, um zu wissen, was Sache ist: Markt am Sonntag und alle Läden offen. Zugegeben, nicht alle Kaufhausketten haben auf, eher die kleinen Geschäfte. Was genau das Schöne an einem südlichen Sonntag ist.

Die auswärtige Laxheit könnte daran liegen, dass die christliche Moral dort noch Gewicht und die katholische Kirche, die mit gewissen Modernisierungsschwierigkeiten kämpft, ihr traditionelles Sündenregister noch nicht auf den neuesten Stand gebracht hat. Konsum muss man hier bislang jedenfalls noch nicht beichten. Klauen immer. Ob sie damit aber den Gewissensnöten der Menschen der Industrienationen des 21. Jahrhunderts gerecht wird?

Man darf es bezweifeln. Denn hier, wo die christliche Ethik tatsächlich an Einfluss verliert, bildet sich sofort eine neue, säkulare heraus. Und sie verheisst nicht unbedingt nur neue Freiheiten. Sie zeigt vielmehr reichlich asketische Züge, auch wenn die Akzente anders liegen. Und so scheint es, dass man sich zuletzt weder fürs Klauen noch für den Ehebruch schämen muss, sehr wohl aber fürs Konsumieren. Weniger Fliegen, weniger Autofahren, das ist eine vernünftige Forderung einer grün-alternativen Öffentlichkeit und ihr Tugendterror zugleich. Für dieses Milieu und die alte Linke, die nun als neue Mitte figuriert, heißt es gerade in einer Welt kapitalistischen Wirtschaftens der stets neuen Verführung zu widerstehen.

Doch weil man nachgerade zu konsumieren gezwungen wird, ist es dann nur folgerichtig dafür zu plädieren, den Ladendiebstahl wie eine Ordnungswidrigkeit zu behandeln. Und ebenso zwangsläufig folgt auf diesen von Herta Däubler-Gmelin gemachten Vorschlag der Entkriminalisierung eines Bagatelldelikts ihr giftiger Kommentar zu Kaufhof et al., dass nämlich nicht hingenommen werden kann, „dass einzelne Interessengruppen meinen, das Gesetz gelte für sie nicht, wenn ihre ökonomischen Interessen in eine andere Richtung weisen“.

Sieht die mit Applaus bedachte Öffnung des Kaufhofs am Alexanderplatz doch so aus, als ob wir unseren gerade neu erfundenen Frevel schon nicht mehr bereuten! Die 50.000 Leute, die am 1. August den Laden stürmten, waren ein schwerer Schlag gegen die neue Mittelstandsmoral. Da war er, der Werteverfall, die Entsolidarisierung, die Egoismusfalle und der neue Hedonismus; vor allem bei Leuten, die gegenüber den Gewerkschaftsleuten von Handel, Banken und Versicherungen argumentierten, dass sie ja auch „Schicht arbeiteten“ – woraufhin sie für die FAZ „proletarisch“ aussahen. Die Leute verstießen eigentlich nicht gegen die alten Werte des Familienlebens, das für SPD- und CDU-Politiker sowieso, vereinzelt aber sogar für FDPler praktischerweise nur am Sonntag – und keinesfalls beim Einkaufen – stattfindet. Sie verstießen gegen den neuen Anstand, wenigstens einmal in der Woche nicht auf das Fleisch, nein, auf den Einkaufsbummel zu verzichten.

Die Leute, die sagten, „sonst ist doch sonntags am Alex nüscht los“, wissen eben nicht, dass in unserer Gesellschaft nicht nur mehr und andere Freiheiten verstanden und verkraftet werden müssen – freilich auch gelebt werden dürfen –, als sie im Katechismus stehen, sondern dass auch neue Sünden und neue Bußübungen entstehen. Konsumverzicht ist zum Beispiel eine solche religiöse Praxis, besonders für uns, die wir unseren Gang ins Kaufhaus schon beginnen als Religionsersatz zu deuten: Trost und Erbauung im Konsumtempel.

Dass der Sonntag in Deutschland so verdammt heilig ist, das wird wohl erst einmal so bleiben. Weil er den Vertretern der neuen Mittelstandsaskese so wesentlich ist wie Gewerkschaften und Kirchen. Im Urlaub aber – und an der Tankstelle um die Ecke – werden wir selbstverständlich am Sonntag einkaufen gehen. Nur am Alex, da wird nüscht los sein.